Detlev Mares

Der neue "Gebhardt".
Zum Erscheinen der 10. Auflage des Standardhandbuchs zur deutschen Geschichte

Erschienen in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 30, 2002, S. 295-300
(dort auch Anmerkungen und Seitenverweise)

Gebhardt - Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Auflage, hg. von Alfred Haverkamp, Wolfgang Reinhard, Jürgen Kocka und Wolfgang Benz, 24 Bände, Stuttgart: Klett-Cotta 2001 [-2006].

Besprechung der Einzelbände:
- Band 9:Wolfgang Reinhard: Probleme deutscher Geschichte 1495-1806; Reichsreform und Reformation 1495-1555, Stuttgart: Klett-Cotta 2001.
- Band 10:Maximilian Lanzinner: Konfessionelles Zeitalter 1555-1618; Gerhard Schormann: Dreißigjähriger Krieg 1618-1648, Stuttgart: Klett-Cotta 2001.
- Band 13: Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 2001.
- Band 17: Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart: Klett-Cotta 2002.

Brauchen wir ein weiteres Handbuch zur deutschen Geschichte? In den letzten 10-15 Jahren sind von vielen Verlagen Überblicksdarstellungen in verschiedensten Formaten auf den Markt gebracht worden, von Taschenbuchbändchen zu Einzelthemen über bibliophil gestaltete Reihen bis hin zu den monumentalen Einzelleistungen eines Thomas Nipperdey und eines Hans-Ulrich Wehler.
Doch der Gebhardt ist ja nicht irgendein Handbuch! Seit der Gymnasiallehrer Bruno Gebhardt aus Breslau in den Jahren 1891/92 sein damals zweibändiges Handbuch veröffentlichte, das eigentlich in den Schulen eingesetzt werden sollte, hat sich "der Gebhardt" in den Folgeauflagen zur Kollektivanstrengung der Historiker (angesichts der aktuellen Autorenliste muß man leider sagen: immer noch weniger der Historikerinnen) der jeweiligen Generationen entwickelt. Überblicksdarstellungen, die in dieser Ausführlichkeit vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit reichen, sind trotz aller Verlagsanstrengungen dann doch eher selten. Dennoch: Auch der neue Gebhardt, der nun die 10., völlig neugeschriebene Auflage erreicht hat, muß sein Erscheinen rechtfertigen durch neue Ergebnisse, sei es aus dem breiten Feld der Einzelforschung heraus, sei es aufgrund neuer methodischer Herangehensweisen an die Geschichte.
Die erste Begegnung mit dem neugestalteten Handbuch ist vielversprechend. Die vier bisher erschienenen Bände präsentieren sich in deutlich angenehmerem Gewand als die Vorgängerauflage. Diese war zunächst in steinbrockenschweren dicken Bänden erschienen, bevor sie in der dtv-Taschenbuchausgabe auf ein benutzerfreundliches Format schrumpfte. Der neue Gebhardt ist von vornherein in handliche Einzelbände gegliedert, die in rotem Leinen gebunden sind und eher wie Monographien statt als schwerfällige Handbuchkost daherkommen.
Die Grobeinteilung des Gesamtwerks richtet sich nach Epochen: Bände 1-8 umfassen die Spätantike bis zum Ende des Mittelalters (hg. von Alfred Haverkamp), Bände 9-12 die Frühe Neuzeit (hg. von Wolfgang Reinhard), Bände 13-17 das "lange" 19. Jahrhundert von 1806-1918 (hg. von Jürgen Kocka), die Bände 18-23 das restliche 20. Jahrhundert (hg. von Wolfgang Benz). Band 24 schließlich wird das Gesamtregister, die Karten und Stammtafeln enthalten. Daß dieser Band als letzter der Reihe erst im Jahr 2006 erscheinen soll, ist aus Bearbeitungsgesichtspunkten verständlich; beim Lesen der bereits erschienenen Bände ist es aber bedauerlich, daß gerade die Karten sich nicht im Anhang der Einzelbände befinden. Allerdings bietet jeder Einzelband einen ausführlichen Anhang, der neben Personen-, Orts- und Sachregister von Band zu Band je nach Bedarf variierende Rubriken enthält, so Zeittafel, Tabellenverzeichnis, Angaben zu Münzen und Gewichten oder zu den Territorial- und Kirchenprovinzfürsten.
Die eigentliche Gliederung des Gebhardt ist aber nicht der Einzelband. Innerhalb der vier Epochen ist das Werk vielmehr wie die Vorgängerauflage in sog. "Abschnitte" unterteilt. Diese Abschnitte können bei der Auslieferung einem Band entsprechen (so bisher bei den Bänden zum 19. Jahrhundert: Abschnitt I ist Band 13, Abschnitt VI ist Band 17); es können sich aber auch mehrere Abschnitte in einem Band befinden (so bei den Bänden zur Frühen Neuzeit: Abschnitt I und II ergeben Band 9, Abschnitt III und IV den Band 10).
Ob diese Abschnittseinteilung der neuen Anlage des Handbuchs noch dienlich ist, sei dahingestellt. In jedem Fall ist sie wie in der Vorgängerauflage Grundlage der Literaturverweise. Die Literaturverzeichnisse finden sich weiterhin am Beginn eines jeden Abschnitts, zudem enthalten die Bände am Anfang eine Auflistung mit allgemeiner Literatur zur jeweiligen Epoche. Übersichtlich ist das nicht unbedingt, zumal die einzelnen Titel im Literaturverzeichnis nicht durch Zeilenumbruch voneinander abgesetzt sind, sondern unmittelbar aufeinander folgen. Nimmt man noch hinzu, daß Reihen- und Untertitel fast durchgehend nicht genannt werden, läßt sich nur hoffen, daß für die 11. Auflage ein besseres Verfahren für die Anlage der Literaturverzeichnisse efunden wird.
Sucht man in den ersten vier Bänden nach einer methodischen Klammer, die eine gewisse Schwerpunktsetzung für die 10. Auflage erkennen läßt, so ist wohl zu sagen: Hier schreibt die Generation der Sozialhistoriker. Natürlich bestimmt die Sozialgeschichte die Darstellung nicht völlig. Zumindest die traditionelle Politikgeschichte wird keineswegs vernachlässigt; die Ansätze der Kultur- und Geschlechtergeschichte allerdings, die im Gesamtvorwort der vier Herausgeber angepriesen werden, kommen in den Darstellungen (mit der Ausnahme von Band 13) bisher kaum zum Tragen.
Die Verteilung der Schwerpunkte zeigt sich beispielhaft am Abschnitt Wolfgang J. Mommsens über den Ersten Weltkrieg. Von den 140 Textseiten sind gut 40% dem Thema "Die deutsche Gesellschaft im Kriege" gewidmet. Die Darstellung der "hohen Politik" und des Kriegsverlaufs werden dadurch auf das Nötigste beschränkt. Und das ist eine hervorragende Entscheidung! Der Mommsen-Abschnitt bietet eine prägnante Betrachtung des Ersten Weltkriegs, wie man sie sich auf 140 Seiten kaum besser vorstellen kann. Dabei beschränkt sich Mommsen nicht darauf, lediglich eine Kurzfassung seiner breiter angelegten Darstellung aus der Propyläen-Geschichte Deuschlands (1995) zu liefern. Vielmehr greift er neue Ergebnisse der Forschung auf, so wenn er über das "Augusterlebnis" der deutschen Bevölkerung schreibt. Die lange verbreitete Vorstellung von der taumelnden, massenhaften Kriegsbegeisterung ist inzwischen durch Regionalstudien überholt. Zwar gab es in der Tat eine "Flutwelle nationaler Gesinnung" und echte Begeisterung, aber Mommsen läßt auch "Schrecken und Irritation" sowie die "depressiven Gefühlen und tiefe Sorge vor dem, was kommen würde", zu Wort kommen. Wenn das Volk recht geschlossen in den Krieg zog, so war dies weniger die reine Begeisterung als "das Empfinden nationaler Solidarität", das die Gegner des Kriegs zunächst verstummen ließ.
Auch die Ergebnisse der historiographischen Kriegszieldebatte der 1960er Jahre werden inzwischen modifiziert. Die wilhelminische Führung erscheint nicht mehr als die damals von Fritz Fischer gezeichnete Gruppe imperialistischer Maximalisten, sondern ihre weitreichenden Annexionspläne ließen auch Raum für "einen geschmeidigen Imperialismus der informellen beziehungsweise indirekten Methoden". Im Verlauf des Krieges kam es in der Tat zu einer "Eskalation der Kriegsziele", doch diese sind nicht länger als ein vor dem Krieg unverrückbar feststehendes Programm anzusehen.
In den gesellschaftsgeschichtlichen Kapiteln schließlich argumentiert Mommsen, daß der Krieg keineswegs zur Verstärkung der Klassengegensätze mit den Arbeitern auf der unterlegenen Seite führte, wie dies ein Teil der Forschung der 1970er Jahre erarbeitet hatte. Vielmehr waren die Hauptleidtragenden in der Heimat alle diejenigen Angestellten, Beamten, Gewerbetreibenden oder Hauseigentümer, die von festgelegten Einkünften leben mußten. Die Arbeiter dagegen konnten ihre Position deutlich verstärken, da sie ja in der Produktion unverzichtbar waren.
Einwände gegen Mommsens Darstellung lassen sich höchstens gegen eine etwas leichtfertige Wahl von Überschriften vorbringen. So trägt das Kapitel über die Gesellschaftsgeschichte des Krieges den Untertitel "Hunger, Verelendung und unendliches Leiden". In diesen dramatischen Formeln erschöpft sich die Gesellschaftsgeschichte dieser Jahre aber keineswegs, und zurecht weist das Kapitel daher auch diejenigen aus, die vom Krieg kräftig profitierten. Der Buchtitel selbst, "Die Urkatastrophe Deutschlands", spielt als analytischer Ansatz für die Darstellung keine Rolle. Im Text wird unter Bezugnahme auf George Kennan lediglich auf die Urkatastrophe "des 20. Jahrhunderts" Bezug genommen; auf dem Buchrücken gar von der Urkatastrophe "Europas" gesprochen. Das zeigt ein konzeptionelles Wirrwarr, das sich leicht hätte vermeiden lassen. Dazu wäre allerdings eine stärkere Berücksichtigung der Auswirkungen des Krieges erforderlich gewesen als die vier Seiten, die hier vorgelegt werden.
Mommsens Abschnitt bildet den Abschluß des Epochenteils über das "lange" 19. Jahrhundert. Dessen Anfang bildet Jürgen Kockas Abschnitt (der als Band 13 erscheint). Dabei ist zu berücksichtigen, daß jeweils der erste Abschnitt der Epochenteile aus der Chronologie herausgehoben ist. In ihm bieten die Herausgeber jeweils einen Überblick über Grundprobleme und Forschungsperspektiven für die gesamte von ihnen betreute Epoche. Dies unternimmt für das "lange" 19. Jahrhundert mit Jürgen Kocka zwar einer der angesehensten deutschen Sozialhistoriker, doch seine Kapitel zu zentralen Themen der Geschichte des 19. Jahrhunderts verknüpfen fast schon in vorbildhafter Weise Aspekte der Sozial-, Wirtschafts-, Politik-, Geschlechter- und Kulturgeschichte.
Kockas Frage nach dem Epochencharakter des "langen" 19. Jahrhunderts richtet sich auf Kernkonzepte, mit denen die Geschichte dieser Zeit erfaßt werden kann; zudem problematisiert sie die zeitlichen Grenzen des Jahrhunderts selbst (läßt man es z. B. mit der Französischen Revolution beginnen oder - wie Nipperdey - mit Napoleon?). Die Möglichkeit, sich dem Jahrhundert aus verschiedenen Perspektiven zu nähern, erarbeitet Kocka zunächst aus einem Überblick über die bisherigen historiographischen Versuche, das Jahrhundert begrifflich zu erfassen. Je nach Erfahrungshintergrund der Historiker standen dabei Elemente wie der Frieden, das Freiheitsstreben oder die Nationalstaatsgründung im Vordergrund. Kocka selbst bietet vier mögliche Charakterisierungen an: Jahrhundert der Industrialisierung, der Bevölkerungsexplosion und Wanderungen, der Nationalstaaten sowie "bürgerliches" Jahrhundert. Die einzelnen Kapitel bieten nicht nur "realhistorische" Schilderungen von Abläufen, sondern reflektieren jeweils neue Sichtweisen auf das Jahrhundert aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts. Analysen der Industrialisierungsgeschichte werden beispielsweise immer stärker inspiriert von der Frage nach dem Resourcenverbrauch des Kapitalismus und der Umgestaltung des Verhältnisses Mensch - Natur sowie durch den Übergang zu einer transnationalen Betrachtungsweise. Auch bei den Themen Nationalstaatsbildung und Migration sind die Verschiebungen in unserem Interesse am 19. Jahrhundert seit 1989/90 offensichtlich.
Das gesellschaftsgeschichtliche Kapitel schließlich interpretiert das 19. Jahrhundert mit gewissen Einschränkungen als "bürgerliches" Jahrhundert. Zwar bildeten sich in dieser Zeit unterschiedliche Klassen heraus, von denen das Bürgertum nur eine war. Doch in bestimmten Grenzen drangen seine Kultur und Wertvorstellungen in die anderen Klassen ein. Insbsondere die Vorstellung von einer "Zivilgesellschaft" (im Sinne einer auf aktiver Teilhabe der Bürger an den allgemeinen Dingen beruhenden Ordnung) entfaltete sich zu einem Ideal mit großer Folgewirkung. Nie ganz eingelöst, blieb es doch als Leitvorstellung bis in unsere Zeit präsent.
Diese vier von Kocka herausgearbeiteten Einzelelemente kulminieren schließlich in der abschließenden Charakterisierung der Epoche als einem Jahrhundert der "klassischen Moderne". Es erscheint als spezifisch deutsche Ausprägung universaler Modernisierungsprozesse, die sich in vielen Gesellschaften und Kulturen nachweisen lassen. Damit ist klar, daß die deutsche Geschichte im Gegensatz zu früheren Darstellungen aus sozialhistorischer Feder nun nicht mehr so sehr als ein "Sonderweg" charakterisiert wird, sondern als eine eigenständige Form umfassender Prozesse.
In Kockas Aufschlüsselung erscheint das 19. Jahrhundert in vielen seiner Problemlagen und Lösungsperspektiven wieder näher an unsere Gegenwartserfahrungen herangerückt, obwohl doch der wachsende zeitliche Abstand eigentlich seine Aktualität mindern sollte. Das "kurze" 20. Jahrhundert (1918-1989/90) war, so könnte es fast scheinen, in mancherlei Hinsicht das "Jahrhundert des historischen Umwegs". Seine Katastrophen, seine Diktaturen, seine Kriege, seine Verbrechen stellten mögliche Reaktionen auf die aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Problemlagen dar. An seinem Ende zeigte sich aber, daß nur in wenigen Bereichen tragfähige Lösungen gefunden worden waren (so bei der Schaffung internationaler Organisationen), während allzu häufig nur die alten Problemstellungen wieder hervorlugen. Es wird spannend sein, die Geschichte in den Gebhardt-Abschnitten zum 20. Jahrhundert weiter zu verfolgen. Jedenfalls zeigt sich am Band 13: Die neu geschaffene Rubrik der "Epocheneinführung" ist vielleicht sogar als der eigentliche Gewinn des neuen Gebhardt zu bezeichnen. In klarer Sprache diskutieren diese Abschnitte übergreifende Problemzusammenhänge, die sonst in der Einzelforschung häufig verlorengehen oder so kompliziert ausgedrückt werden, daß sich der Laie kaum darin zurechtfindet. Dieser Gefahr erliegt der neue Gebhardt nicht.
Dieses Urteil stützt sich auch auf Wolfgang Reinhards Epocheneinleitung zur Frühen Neuzeit, die sich in Band 9 findet. Sie ist der bisher vielleicht spritzigste Abschnitt der Neuauflage. Die Herausgeber betonen in ihrer Gesamteinleitung (die in jedem Einzelband aufs Neue abgedruckt ist), daß erstmals im Gebhardt die Frühe Neuzeit als eine eigenständige Epoche behandelt wird. Wolfgang Reinhard weist aber ganz lapidar darauf hin, daß dies keineswegs zwingende inhaltliche Gründe hat, sondern mit "der professionellen Differenzierung des Faches Geschichte im Zuge der Stellenvermehrung und des Universitätsausbaus seit den 1960er Jahren" zu tun hat. Sie erlaubte den Ausbau der Frühneuzeitgeschichte zu einem eigenen Fachteil, der sich nun in der Anlage des Gebhardt spiegelt. Die zeitliche Abgrenzung der "Frühen Neuzeit" sieht er recht gelassen. Viele Gründe sprechen dafür, eher die Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit zu betonen, statt von einer Epochenzäsur um 1500 auszugehen. Die Klarheit und Offenheit, mit der Reinhard diese Fragen behandelt, zeichnen auch seine Darlegungen zur räumlichen Abgrenzung Deutschlands in der frühen Neuzeit sowie seinen knappen Überblick über wichtige Entwicklungslinien in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur bis zum Ende des Alten Reiches 1806 aus. Wie für Kockas Darstellung gilt auch für Reinhards Epocheneinleitung: Wer den ganzen restlichen Gebhardt ignorieren wollte, sollte sich zumindest diesen Abschnitt nicht entgehen lassen!
Ebenfalls in Band 9 findet sich der Abschnitt II zum Zeitraum von 1495 bis 1555, verfaßt ebenfalls von Wolfgang Reinhard. In diesem Abschnitt spielt selbstverständlich wie in der Vorgängerauflage die Reformation eine zentrale Rolle. Eine neue Akzentsetzung ergibt sich aber aus der Kopplung dieses Themas mit dem der Reichsreform, also dem 1495 eingeleiteten Versuch, dem Reich eine "moderne" institutionelle Grundstruktur zu verschaffen. Einrichtungen wie der Reichstag, das Reichskammergericht oder auch das problematischere Reichsregiment werden inzwischen als ernstzunehmende Versuche zur Ordnung der reichischen Politik diskutiert. Mit dem Augsburger Reichstag von 1555 verfestigten sich einzelne dieser Elemente zu einer Struktur, die dem Reich bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein als Grundlage zum Austragen politischer Konflikte diente.
Damit ist der Bogen geschlagen in den Abschnitt III (in Band 10) von Maximilian Lanzinner, der die Zeit von 1555 bis 1618 behandelt. Entgegen älteren Darstellungen wird diese Phase nicht nur als ein Weg in den großen Krieg geschildert, sondern erhält eigenes Gewicht. Keineswegs erscheinen die Kaiser dieser Zeit länger als schwache Herrscher, sondern eher als umsichtige Taktierer, deren Vorsicht überhaupt nur die lange Friedensperiode möglich machte. Ebenfalls im Unterschied zur älteren Forschung erscheint das Verhältnis von Ständen und Reich keineswegs nur als eine Konfliktgeschichte. Dennoch bleibt wichtig, daß die Stände gegen gelegentliche kaiserliche Zentralisierungsbestrebungen "das libertäre System von 1555" verteidigten - ein Begriff, unter dem insbesondere die Souveränität der einzelnen Reichsstände verstanden wird.
Um zu erklären, wie es dennoch zum Abrutschen in den Konflikt kam, wertet Lanzinner ein Datum auf, das bisher kaum zu den "großen" Epochendaten unserer Schulbücher zählt: 1586. Mit dem Tod Kurfürst Augusts von Sachsen sieht er das ganze sorgfältig ausbalancierte Verhältnis zwischen Ständen und Reich, Protestanten und Katholiken zusammenbrechen, da der Nachfolger die kaisertreue Haltung des protestantischen Kursachsen zugunsten einer konfliktbetonteren Linie aufgab. Es begann eine "Radikalisierung konfessionspolitischer Ansprüche", die sich in eine verhängnisvolle Richtung entwickeln sollte.
Wie der Titel des Abschnitts schon andeutet, prägt "Konfessionalisierung" als Leitbegriff die Darstellung Lanzinners. Damit ist nicht nur die Konfessionsbildung im engeren Sinn gemeint, die in der 9. Auflage des Gebhardt im Mittelpunkt stand, sondern ein gesellschaftlicher Fundamentalvorgang. Dieser erfaßte über Schulwesen, Politik und soziale Disziplinierung alle Lebensbereiche in den einzelnen Territorien.
Mit dieser Betonung der Konfessionalisierung als Leitkategorie unterscheidet sich Lanzinners Ansatz von der Schwerpunktsetzung Gerhard Schormanns, der in Abschnitt IV (ebenfalls in Band 10) den Dreißigjährigen Krieg darstellt. Schormann betont mehrfach, daß die Ursachen des Krieges in Ständekonflikten lagen, die durch Konfessionsfragen verschärft wurden. Damit liegt der Akzent genau umgekehrt wie bei Lanzinner. Auch an weniger wichtigen Details kann man die Spielräume für historische Akzentsetzung erkennen. So findet Lanzinner, die böhmischen Stände seien 1617 bei der Wahl des späteren Kaisers Ferdinand II. zum König von Böhmen "überrumpelt" worden, während Schormann den Habsburgern eine "meisterhafte Regie" am Wahltag bescheinigt.
Insgesamt erscheinen Lanzinners und Schormanns Abschnitte im Vergleich mit den anderen Teilen vielleicht etwas weniger gelungen. Das liegt nicht etwa an fachwissenschaftlichen Mängeln, sondern an der Darstellungsweise. Beide tauchen ohne einleitende Worte in das Getümmel historischer Detailfragen ein, so daß der Leser in ihren Abschnitten die große Linie selbst finden muß. Auch manche Begriffserklärung wäre hilfreich - muß jeder Leser wissen, was ein "Römermonat" war? Vor allem Schormanns Darstellung des Dreißigjährigen Kriegs hätte einfach etwas mehr Raum gebraucht. Die knapp siebzig Textseiten erlauben es nicht, dieses Thema angemessen zu entfalten. Während die anderen Abschnitte weitgehend ohne spezielle Vorkenntnisse gelesen werden können, muß man bei Schormann zumindest schon wissen, daß es "den" böhmischen Aufstand gab. Noch unvermittelter wird Wallenstein eingeführt. Plötzlich ist er da, wie ein alter Bekannter, der keine persönliche Vorstellung mehr benötigt. Der ereignisgeschichtliche Abriß ist so dicht geschrieben, daß man beim Lesen immerhin eine gute Vorstellung davon bekommt, wie verwirrend die Vorgänge schon für die Zeitgenossen gewesen sein müssen. Am interessantesten sind die Passagen, in denen Schormann thematische Querschnitte zieht oder Einzelprobleme beleuchtet (Kontributionssystem, Kriegsfolgen, Hexenverfolgungen). So beginnt das Kapitel über die sozioökonomischen Kriegsfolgen mit auch didaktisch aufschlußreichen Überlegungen zur Quellenproblematik. Beim Thema Hexenverfolgung betont Schormann allerdings sehr stark die Verbindung zwischen den Verfolgungen und katholischer Machtausweitung. Damit bekräftigt er eine Position, die in der Forschung eigentlich einer sehr viel differenzierteren Ursachenanalyse Platz gemacht hat.
Drei erfreuliche Punkte lassen sich nach der Lektüre der ersten Bände des neuen Gebhardt festhalten:
Erstens bieten die Abschnitte nicht nur eine Fülle von Detailinformationen und neuen Einzelergebnissen der Forschung, sondern sie werfen in der Regel weiterführende Fragen auf. Zwar wird der in der Herausgebereinleitung formulierte Anspruch, die deutsche Geschichte in einen europäischen Rahmen einzuordnen, nicht in allen Bänden gleichermaßen umgesetzt, aber zumindest das Bemühen ist erkennbar, auf solche komparativen Dimensionen nationaler Geschichte zu verweisen.
Zweitens sind die meisten Abschnitte vorbildlich in der Offenlegung der Leitprinzipien und Leitfragen, unter denen die Darstellung steht. Dies lockert die Allwissenheitspose, in der manche Handbücher daher kommen, auf und lädt zum Dialog mit den vorgebrachten Gedanken ein.
Drittens sind die bisherigen Bände einfach gut geschrieben! Sie sehen nicht nur von ihrer Gestaltung her wie Monographien aus, sie lassen sich auch als solche lesen. Damit dürften sie eine Chance haben, das selbstgesteckte Ziel zu erreichen, über den Kreis der Fachwissenschaft hinaus Interesse hervorzurufen. Als Hintergrund zur Unterrichtsvorbereitung sind sie in ihrer klaren Präsentation der Grundstrukturen einzelner Epochen in jedem Fall sehr zu empfehlen.
Ja, ein solches neues Handbuch zur deutschen Geschichte lassen wir uns gerne gefallen!!