Besprechung zu:

Tânia Ünlüdag: Mentalität und Literatur. Zum Zusammenhang von bürgerlichen Weltbildern und christlicher Erziehungsliteratur im 19. Jahrhundert am Beispiel der Wuppertaler Traktate, Köln 1993 (= Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Band 108). VIII + 431 S.

Autor der Besprechung: Detlev Mares

Erstveröffentlichung der Besprechung: Theologische Literatur - Beilage zur Reformierten Kirchenzeitung 3, 1997, S. 15/16.

Weit über das Beispiel der 1814 gegründeten Wuppertaler Traktatgesellschaft hinausgehend, beschreibt die anspruchsvolle Studie die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts als anti-aufklärerische, anti-rationale und anti-moderne Reaktion auf die religiöse und politische Krisenerfahrung der modernen Doppelrevolution, die sich in Industrialisierung und politischer Umwälzung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzog. Vom früheren Pietismus wird die Erweckungsbewegung durch die These abgegrenzt, sie habe sich nicht in die Innerlichkeit zurückgezogen, sondern durch gezieltes öffentliches Wirken um eine christlich inspirierte Umgestaltung der Gesellschaft bemüht. Dies führte zu einem "paradoxen Konservatismus" (S. 138), in dem sich eine rückwärtsgewandte Programmatik mit der übernahme ausgesprochen moderner, nicht zuletzt gerade durch die Aufklärung geschaffener Kommunikationsformen verband, während der Ausnahmecharakter des individuellen Erweckungserlebnisses immer mehr zum bewußt "fabrizierbaren" Ereignis verflachte.

Die eschatologischen ängste vor dem Verfall der sittlichen Ordnung, die durch das individualisierende und anti-christliche Denken der Französischen Revolution hervorgerufen wurden, bildeten den Hintergrund für die Verbindung von religiösem Erweckungsbewußtsein und national-restaurativen Tendenzen in der Politik nach 1814. Die Wuppertaler Traktatgesellschaft begründete sich zu diesem Zeitpunkt aus der Hoffnung heraus, nach dem Ende der französischen "Fremdherrschaft" eine sowohl religiöse als auch nationale Regeneration durch die Verbreitung christlicher Literatur in den Unterschichten erreichen zu können. Schon vor der Revolution von 1848 wurde jedoch offenkundig, daß ein Teil des Bürgertums die christlich-konservativen Zielvorstellungen der Erweckungsbewegung nicht teilte, sondern religiöse Unterweisung vornehmlich als Mittel zur Sicherung sozialer Stabilität zu funktionalisieren gedachte. Die Erweckungsbewegung reagierte darauf mit dem von Wichern initiierten Projekt der "inneren Mission", das sich nicht mehr nur an die Unterschichten, sondern an die "von Gott Entfremdeten" insgesamt wendete (S. 158).

Auf der Grundlage beachtenswerter theoretischer Reflexionen zum Begriff "Mentalität", der in das Programm einer umfassenden Kulturgeschichte integriert wird, und nach einer eingehenden Inhaltsanalyse von 452 Traktaten interpretiert ünlüdag die hauptsächlich von Lehrern und Pastören getragene Traktatbewegung überzeugend als eine "Spielart bürgerlicher Mentalität" (S. 330), wenngleich ünlüdag selbst gelegentlich der von ihr angegriffenen Versuchung verfällt, bestimmte Werte und Einstellungen a priori als "bürgerlich" zu definieren, statt "Kultur" in ihrer Doppelgesichtigkeit von Klassengebundenheit und Klassenüberschreitung zu verstehen. Wenn die Traktate auf Unterweisung der Arbeiter abzielten, bedeutet dies nicht notwendigerweise, daß die in ihnen propagierten Werte ausschließlich "bürgerlich" gewesen sein müssen. Insgesamt jedoch bedeutet die Studie eine ausgesprochen gelungene Analyse der Ambivalenzen der Erweckungsbewegung, die Reaktion auf die Moderne, zugleich aber selbst Phänomen der Moderne war.

 

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