Besprechung zu:

Kordula Schlösser-Kost: Evangelische Kirche und soziale Fragen 1918-1933. Die Wahrnehmung sozialer Verantwortung durch die rheinische Provinzialkirche, Köln: Rheinland-Verlag GmbH in Kommission bei Dr. Rudolf Habelt GmbH 1996 (= Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Band 120), IX + 555 S.

Autor der Besprechung: Detlev Mares

Erstveröffentlichung der Besprechung: Theologische Literatur - Beilage zur Reformierten Kirchenzeitung 8, 1998, S. 8.

In der Weimarer Republik wurde das bereits im Kaiserreich etablierte, karitative Wirken kirchlicher Verbände durch eine sozialpolitische Strukturarbeit der Kirchen ergänzt. Der Protestantismus bemühte sich, nicht nur auf Verbandsebene, sondern auf der offiziellen Ebene der verfaßten Kirche Kontakte zur Arbeiterschaft herzustellen, die mit der Revolution von 1918/19 die politische Gleichstellung erreicht hatte. Zugleich wurde jedoch das Verständnis von Sozialpolitik über die Lösung der Arbeiterfrage hinaus erweitert und richtete sich zunehmend auf das Wohl aller gesellschaftlichen Schichten und Gruppen. Der Protestantismus sah sich durch die sozialen und politischen Herausforderungen in eine "Zeit der Experimente" (S. 236) gestürzt. Er reagierte auf diese Erfahrung teilweise mit einer Verweigerungshaltung gegenüber dem Druck, das Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen zueinander fundamental zu überdenken. Eine wichtige Minderheit entwickelte jedoch einen "Öffentlichkeitswillen", der eine ausdrückliche Mitwirkung an der sozialen Gestaltung der Gesellschaft anstrebte. Die Studie Schlösser-Kosts untersucht die Träger dieser Initiativen in der rheinischen Provinzialkirche. Diese war nicht nur wegen alter karitativer Traditionen, sondern allein schon aufgrund ihrer Zuständigkeit für die Industrieregionen im Westen der Republik zu innovativen Ansätzen in der sozialpolitischen Arbeit prädestiniert.

Der erste Teil der Untersuchung bietet einen knappen, aber präzisen Einblick in die Lage des Protestantismus nach 1918. Seine konservativen Strömungen hatten sich nach dem Ende des Kaiserreiches mit einer politisch erstarkten Linken abzufinden. Obwohl ein Teil der traditionellen karitativen Tätigkeiten nun auf Wohlfahrtseinrichtungen des Staates überging, weitete sich gerade das soziale Arbeitsfeld der verfaßten Kirche im Verlauf der Weimarer Zeit stetig aus.

Die im ersten Teil angerissenen Fragen werden in den beiden folgenden Teilen weiter ausgeführt. Der ausführliche zweite Teil schildert die Ausweitung bzw. Übernahme sozialer Verantwortung in unterschiedlichen Aktivitätsbereichen und auf verschiedenen Ebenen der Kirche, von der Inneren Mission über christliche Arbeitervereine bis hin zu den Landes- und Provinzialkirchen und dem Deutschen Evangelischen Kirchenbund. Der kurze dritte Teil schildert die Bemühungen seitens der Befürworter einer sozialen Aufgabe der Kirche, sozialethische und theologische Begründungen für die soziale Verantwortung der Kirche herzuleiten - eine Aufgabe, die in Spannung zu der gerade populär werdenden Theologie Karl Barths stand und zu deren Lösung angesichts der früh einsetzenden reaktionären Tendenzen in Politik und Kirche ohnehin kaum Zeit blieb.

Der wiederum sehr ausführliche vierte Teil untersucht die Haltung der rheinischen Provinzialkirche gegenüber sozialen Fragen. Im Zentrum der Betrachtung steht das Wirken Wilhelm Gustav Menns, der unter der Schirmherrschaft des rheinischen Präses Walther Wolff als Sozialpfarrer mit einer übergemeindlichen Pfarrstelle ausgestattet wurde. Entgegen ersten Konzeptionen, die bis ins Jahr 1917 zurückreichten, gelang es Menn, eine beschränkte Ausrichtung des Sozialpfarramts auf die Missionierung der Arbeiterschaft zu vermeiden und soziale Arbeit stattdessen auf allen kirchlichen Ebenen und in der gesamten Gesellschaft einzufordern. Erfolgreich knüpfte er Kontakte zu rheinischen Unternehmern, seine Bemühungen um die organisierte Arbeiterschaft scheiterten jedoch meist am Mißtrauen und der Ablehnung der Gewerkschaftsfunktionäre.

Trotz mancher Wiederholungen, die bei einem Werk dieses Umfangs vielleicht kaum vermeidbar sind, hat Schlösser-Kost eine durchdachte, klar strukturierte Studie vorgelegt, die anschaulich die Reaktion innovativer kirchlicher Kreise auf die Herausforderungen einer Situation sozialer und politischer Umwälzung beschreibt und die rheinische Regionalstudie überzeugend in die Grundstrukturen der kirchlichen Sozialpolitik in der Weimarer Zeit einordnet.

 

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