Besprechung zu:

Susan Dabney Pennybacker: A Vision for London 1889-1914: Labour, Everyday Life and the LCC Experiment, London/New York: Routledge 1995, XIV + 315 S.

Autor der Besprechung: Detlev Mares

Erstveröffentlichung der Besprechung: Archiv für Sozialgeschichte 38, 1998, S. 766-767.

Mit dem direkt (wenngleich unter eingeschränktem Wahlrecht) gewählten London County Council (LCC) wurde 1889 die größte lokale Verwaltung der Welt geschaffen. Obwohl ein Teil der zuvor in die Hunderte zählenden Verwaltungsinstanzen der (um 1900) Fünf-Millionen-Metropole bestehen blieb und die Entscheidungen des LCC der Zustimmung des Parlaments bedurften, war die Verwaltungsstruktur durch seine Gründung wesentlich gestrafft. Dem LCC oblagen in Zukunft Aufgabenbereiche wie Kanalisation, Transport, Feuerschutz, Parkverwaltung, Straßen- und Brückenbau, städtische Finanzverwaltung, der Bau von Arbeiterwohnungen und schließlich auch die Schulen.

Mit der Gründung des LCC wurde eine zukunftsweisende Antwort auf die sich verschärfende Krise der Metropole gesucht. Die trotz aller Gegenmaßnahmen desolaten sanitären Verhältnisse, die Finanzprobleme der Armenverwaltung oder die prekären Wohnverhältnisse der ständig wachsenden Stadt - solche und ähnliche Probleme, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auftürmten, ließen sich mit dem herkömmlichen Verwaltungschaos nicht länger lösen. Doch die erstmalige Schaffung einer einheitlichen, alle Londoner Stadtbezirke erfassenden Verwaltung war nicht nur ein administrativer Akt. Sie war getragen von einer sozialen Vision. Politischer Träger dieser Vision waren die Progressives, eine breite lokalpolitische Allianz aus Mitgliedern liberaler Wahlkreisvereinigungen, Gewerkschaftsführern, Nonkonformisten und Sozialreformern, Sympathisanten der Fabier und Mitgliedern der Londoner Arbeiterclubs. Sie alle waren durchdrungen vom Gefühl einer sozialen Mission für London, in der nonkonformistische Moralität, gemeindesozialistische Vorstellungen und städtische Autonomiebestrebungen gepaart waren. Die gemeinschaftliche Verwaltung öffentlicher Güter (Gas, Wasser) und der Appell an eine moralische Lebensführung wurden als Garantie gegen einen sozialen Kollaps der Stadt propagiert. Die Sozialpolitik des LCC war aber zugleich ein Versuchsfeld für die Umsetzung sozialistischer und sozialstaatlicher Gesellschaftskonzepte, nachdem Rufe nach einem moralised capitalism eine Debatte über Legitimation und Möglichkeiten zentralstaatlicher und lokaler Eingriffe in die Wirtschaft angestoßen hatten.

Die exakten Konturen der Vision blieben jedoch bereits innerhalb der heterogenen progressiven Allianz selbst umstritten. Vom bloßen Versuch, die Probleme städtischer Verwaltung administrativ in den Griff zu bekommen, reichten die Positionen bis zur Hoffnung des Gewerkschaftsführers Ben Tillett, der sich von einem erfolgreichen Londoner Modell eine staatskollektivistische Erneuerung der gesamten Gesellschaft versprach. Allerdings sind im Ethos des Progressivism auch eugenische Elemente unübersehbar, so wenn der Arbeiterführer John Burns vom Sozialismus die Züchtung eines gesunden, starken Volkes erwartete. Das Projekt des municipal socialism wurde auf diese Weise in die große nationale Aufgabe, die Festigung des britischen Weltreiches, integriert und erfreute sich bezeichnenderweise der Unterstützung liberaler Imperialisten.

Eine der wichtigsten Innovationen des LCC waren die direct labour programmes, die unmittelbare Beschäftigung von Arbeitskräften durch den Council, beispielsweise für öffentliche Bauvorhaben. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs war der LCC zum größten Arbeitgeber Londons avanciert. Im Zentrum der Darstellung Pennybackers steht die Formung, die die Lebenserfahrungen der Beschäftigten durch den LCC erfuhren. Diese Fragestellung wird eingebettet in eine Erklärung des Scheiterns der 1907 abgewählten Progressives, das den LCC in der Folgezeit zum Symbol für die Schwächen sozialistischer Arbeitsorganisation werden ließ. Pennybacker argumentiert, daß die Enttäuschung mit dem gemeindesozialistischen Experiment auf der mangelhaften Umsetzung progressiver Versprechungen in die Praxis beruhte. Der erste Teil konzentriert sich auf die Verwaltungsangestellten (clerks, blackcoated workers). Das Versprechen leistungsgerechter Entlohnung und neuer Aufstiegschancen verschaffte dem LCC zunächst hochmotivierte Arbeitskräfte. Die hierarchische Struktur der Verwaltung und die zunehmend errichteten Aufstiegsbarrieren, die weniger gebildeten und jungen Arbeitskräften sowie Frauen gar nicht erst den Einstieg in die aussichtsreichsten Aufstiegskanäle erlaubten, führten jedoch bald ebenso zur Enttäuschung sozialer Aspirationen wie die Anforderungen an die Gestaltung des Privatlebens, die zunehmend als beengend empfunden wurden (z. B. der Ausschluß verheirateter Frauen vom Dienst). Eine ähnliche Ambivalenz gegenüber dem Progressivism arbeitet der zweite Teil für die Arbeiter des Baugewerbes heraus. Das 1892 geschaffene Works Department, das Arbeiter für öffentliche Bauvorhaben beschäftigte, scheiterte angesichts enger finanzieller Spielräume letztlich mit dem Versuch, die lokale Organisation der Arbeit gegenüber einem stets skeptischen Teil der Gewerkschaften als überzeugende Lösung der Arbeitsfrage durchzusetzen. Der dritte Teil schließlich zeigt, wie das Versprechen, soziale Ungleichheit zu beseitigen, in der Sozial- und Kulturpolitik des LCC in kleinliche Kontrollmaßnahmen und die Reglementierung des alltäglichen Lebens umschlug. Letztlich gelang es dem Council nicht, seine soziale Vision als verbindliche Lebensauffassung durchzusetzen, zumal die Regulierung des Alltagslebens nicht von der versprochenen materiellen Besserung der Lebensbedingungen begleitet war.

Pennybackers Studie erhält ihren besonderen Wert aus der Einbindung ihrer Ergebnisse in die Debatte um die Entwicklung des britischen Wohlfahrtsstaates. Seit dessen Krise in den 1980er Jahren mehren sich auch in der britischen Geschichtsforschung skeptische Stimmen, die das von neoliberalen Denkern beklagte Überhandnehmen staatlicher Intervention in allen Lebensbereichen nicht nur als Fehlentwicklung wohlfahrtsstaatlicher Politik interpretieren, sondern bereits in deren Ursprüngen im späten 19. Jahrhundert angelegt sehen. Pennybacker zeigt demgegenüber viel Gespür für die Ambivalenzen wohlfahrtsstaatlicher Anliegen. Ihre differenzierte Betrachtung macht nicht nur die mit der Umsetzung einhergehenden Grenzen der progressiven Vision, wie die unvermeidliche Bürokratisierung, deutlich, sondern weckt zugleich Verständnis für die ursprüngliche Attraktivität und die Erfolge des LCC-Experiments. Die Lektüre der Studie lohnt überdies allein schon wegen der vielfältigen, sorgfältig reflektierten Einblicke in die Alltagserfahrungen der Londoner Bevölkerung sowie die sozialistische und liberale Politik um 1900.

 

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