Besprechung zu:

Heinz Monz: Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der Hebräischen Bibel. Übereinstimmung, Fortführung und zeitgenössische Identifikation, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1995. 238 S.

Autor der Besprechung: Detlev Mares

Erstveröffentlichung der Besprechung: Theologische Literatur - Beilage zur Reformierten Kirchenzeitung 12, 1997, S. 3-4.

Die vorliegende Abhandlung erhält ihre Brisanz durch den Versuch, die Gerechtigkeitsvorstellung Karl Marx' auf eine direkte Beeinflussung durch das Gerechtigkeitsdenken der Hebräischen Bibel zurückzuführen. Die ersten beiden Teile der Studie, die die Gerechtigkeitsvorstellungen unabhängig voneinander entwickeln, lassen die Gemeinsamkeiten hervortreten: Beide werden gekennzeichnet als Streben nach einer universalen Gerechtigkeit, die am Ende der Geschichte die Unterschiede von reich und arm aufhebt, Ausbeutung beseitigt und eine Vollendung der Humanität in einem Zustand sozialer Gleichheit und durch Subjektwerdung des Individuums innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht.

Doch war Karl Marx, durchaus bekannt für anti-jüdische Äußerungen, jenseits bloßer Parallelität auch direkt von der jüdischen Tradition beeinflußt? Betrachtungen zu Marx' Trierer Jugenderfahrungen mit dem Judentum leiten im dritten Teil der Studie die Beantwortung dieser Frage ein. Monz argumentiert, die zur weiteren Berufsausübung erforderliche "Zwangstaufe" des Vaters habe für Marx ein "Trauma" bedeutet, das zu einer tiefen, wenn auch unbewußten Identifikation mit dem Judentum geführt habe. Dessen Gemeinschaftsideale hätten im Marxschen Familienleben auch nach der Konversion weiterhin eine bedeutende Rolle gespielt.

Im direkten Vergleich von Marxscher und jüdischer Gerechtigkeitsvorstellung folgert der vierte Teil schließlich, Marx sei in der Tat seinen jüdischen Wurzeln zeitlebens verbunden geblieben. Die Gerechtigkeitsvorstellung der Hebräischen Bibel und diejenige Marx' seien in ihrer teleologischen Ausrichtung und in der Auffassung, wahres Menschentum lasse sich nur innerhalb der Gemeinschaft verwirklichen, nahezu identisch. Zwar verschleiere seine Religionskritik die religiösen Wurzeln von Marx' Gerechtigkeitsvorstellung, doch Monz sucht diese Differenz durch die These zu entschärfen, Marx sei in seiner Zeit lediglich einem "Zerrbild des wahren Christentums" (S. 172) begegnet, dessen ursprüngliche egalitären Lehren zur Legitimation des Kapitalismus instrumentalisiert worden seien. Marx' Religionskritik bedeutete in dieser Situation geradezu das Freilegen ursprünglicher Gerechtigkeitsvorstellungen.

Wenngleich die Parallelen zwischen der Hebräischen Bibel und Marx klar herausgearbeitet werden, bleibt die Studie wegen des Fehlens direkter Belege darauf angewiesen, "Indizien" für eine Beeinflussung Marx' durch die jüdische Tradition zusammenzustellen. Ob diese Indizien letztlich ausreichen, um eine direkte Verbindung nachzuweisen, bleibt jedoch fraglich. Die Studie konzentriert sich auf die Jugenderfahrungen Marx' mit dem Judentum und die Übereinstimmungen der Gerechtigkeitsvorstellungen, nimmt aber nicht die gesamte denkerische Entwicklung Marx' in den Blick. Doch könnte die Marxsche Gerechtigkeitsvorstellung nicht auch aus anderen Quellen als der Hebräischen Bibel stammen? So wird beispielsweise der prägende Einfluß Hegels auf Marx nicht erwähnt, obwohl dieser ebenfalls eine lineare Geschichtskonzeption entwickelte, die auf eine Aufhebung menschlicher Entfremdung hinauslief. Noch weiter ausholend ließe sich fragen, inwiefern die jüdische Gerechtigkeitsvorstellung, wenngleich in Brechungen durch das Christentum, nicht zum tiefverwurzelten Bestandteil einer "abendländischen" Tradition philosophischen Denkens zählte. Vor dem Hintergrund einer solchen vielgestaltigen Vermittlung durch die philosophische Tradition könnten Verbindungen zwischen den Vorstellungen Marx' und der Hebräischen Bibel selbst ohne eine direkte Rezeption nicht überraschen. Schließlich fragt sich, inwiefern Marx allein aufgrund seines Gerechtigkeitsideals als "Künder Gottes" (S. 219) bezeichnet werden kann. In einer solchen Argumentation wird Marx wegen seiner Kritik an den sozialen Mißständen seiner Zeit in die Tradition biblischer Gerechtigkeitsdenker gestellt. Die betonte Säkularisierung, die diese Tradition gerade durch einen Denker wie Marx erfuhr, bleibt dabei jedoch ausgeblendet. Die Interpretation jeden Gerechtigkeitsempfindens als eines "objektiven" Ausdrucks einer religiösen Grundhaltung, unabhängig vom "subjektiven" Anspruch eines Denkers, verweist auf philosophisch-theologische Diskussionen, die über eine Beurteilung des Marxschen Denkens weit hinausführen.

Trotz solcher Spekulationen im letzten Teil der Studie sind die Übereinstimmungen von Marx und Hebräischer Bibel, die sorgfältig herausgearbeitet werden, unabhängig von der Frage einer direkten Rezeption von hohem geistesgeschichtlichen Interesse.

 

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