Besprechung zu:

Immo Meenken: Reformation und Demokratie. Zum politischen Gehalt protestantischer Theologie in England 1570-1660, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 1996 (= Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie, Band 10), 380 S.

Autor der Besprechung: Detlev Mares

Erstveröffentlichung der Besprechung: Theologische Literatur - Beilage zur Reformierten Kirchenzeitung 8, 1998, S. 7/8.

Meenkens ideengeschichtliche Studie bildet einen originellen Beitrag zu der seit mehreren Jahrzehnten unternommenen Revision der "Whig-Interpretation" der englischen Geschichte, die seit dem 18. Jahrhundert das Selbstverständnis der protestantisch-freiheitlichen Nation begründete. Die "Whig-Interpretation" führte die Freiheitstradition des Landes auf den Puritanismus zurück, in dessen Lehren die Forderung nach religiöser mit der nach politischer Freiheit unmittelbar verbunden gewesen sei. Der Puritanismus wird in dieser Interpretation zum historischen Vorläufer moderner demokratischer Prinzipien und Verfahren.

Für Meenken sind demgegenüber protestantische Theologie und politische Freiheit keine Synonyme, sondern er unterstreicht den Vorrang, den religiöse Anliegen gegenüber politischen Freiheits- und Demokratisierungsbestrebungen genossen. Die protestantische Theologie war damit nicht ursprünglich politisch, sondern ihren Positionen eignet allenfalls ein "politischer Gehalt". Dessen Konturen untersucht Meenken in den beiden grundlegenden Strömungen englischen Reformationsdenkens, Puritanismus (darunter faßt er Glaubensüberzeugungen im Bannkreis calvinistischer Theologie, insbesondere Presbyterianer und Kongregationalisten) und Anglikanismus. Zeitlich setzt seine Studie mit der elisabethanischen Kirchenordnung ein. Diese war Ergebnis der politisch motivierten Reformation Heinrichs VIII., legte die staatskirchliche Ordnung fest und wurde zum Reibungspunkt für die primär religiös motivierten Puritaner, denen der Anglikanismus auf halbem Wege zwischen Katholizismus und "wahrer" Reformation steckengeblieben zu sein schien.

Die gegenläufige Entwicklung beider Richtungen, die durch die Veränderungsresistenz der anglikanischen Kirche zementiert und durch die Übernahme arminianischer Ans"tze unter Erzbischof Laud (1633-1644) lediglich verstärkt wurde, war einer der Grundfaktoren für die englische Revolution der 1640er Jahre.

Der erste Teil der Studie bietet eine Grundkenntnisse der geschichtlichen Entwicklung voraussetzende, aber dafür präzise argumentierende Einführung in die konkurrierenden historischen Interpretationen zur Rolle des Puritanismus in der englischen Geschichte, eine Klärung der Kernbegriffe "Puritanismus" und "Demokratie" sowie einen ausführlichen Forschungsüberblick zum Puritanismus und zum Verhältnis von Reformation und Demokratie.

Der zweite Teil untersucht den politischen Gehalt puritanischer, der dritte anglikanischer Theologie. In beiden Fällen werden Ideen, Institutionen, Verfahren und Werthaltungen untersucht, so daß neben der theoretischen Ebene auch die "demokratische" Praxis der einzelnen Konfessionen und das konkrete Verhalten der Gläubigen als Bewertungsmaßstab für den demokratischen Gehalt herangezogen werden können.

Entgegen einer Beschreibung des Puritanismus als Vorreiter demokratischer Ideen und Verfahren arbeitet Meenken im zweiten Teil die inneren Gegensätze zwischen dem calvinistischem Flügel der englischen Reformation und demokratischen Prinzipien heraus. In Ideenhaushalt und Wertgefüge des Presbyterianismus und - in geringerem Maße - des Kongregationalismus waren alle demokratischen Ansätze überlagert durch autoritäre, intolerante und elitäre Elemente, die sich aus dem religiösen Wahrheitsanspruch und dem Schriftgehorsam ergaben und in Hierarchisierung und Sittenaufsicht des Gemeindelebens niederschlugen. Mochten beide Glaubensrichtungen auch in ihrer Kirchenverfassung gewisse Parallelen zu demokratischen Organisationsformen aufweisen, zeigte sich bei beiden doch außerhalb des religiösen Bereichs ein grundlegendes Desinteresse an der Politik. Diese politische Indifferenz war im Baptismus, der als weitere Spielart des religiösen Radikalismus untersucht wird, noch stärker ausgeprägt, unterliefen die Absage an den calvinistischen Prädestinationsglauben und die Konzentration auf die individuelle Heilssuche doch bereits im kirchenorganisatorischen Bereich gemeinschaftliche Prinzipien. Sogar das oft als protodemokratisch beschriebene, föderaltheologisch begründete Widerstandsdenken Samuel Rutherfords läßt sich gänzlich aus dem religiösen Denkhorizont des "Bundes" zwischen Gott, König und Volk interpretieren und wies nur am Rande auf aufklärerische Vertragstheorien voraus.

Nun sind Zweifel am demokratischen Charakter des Puritanismus in der Forschung bereits häufiger geäußert worden. Meenken entwickelt sie jedoch nicht nur mit argumentativem Scharfsinn und an neuen Aspekten, sondern verleiht ihnen besondere Brisanz durch die Kontrastierung mit dem Anglikanismus. Im Gegensatz zum Puritanismus wiesen dessen Institutionen kaum demokratische Züge auf. Von der Forschung wurde der Anglikanismus als potentielle Wurzel der Demokratie daher weitgehend vernachlässigt. Der Blick auf die Werthaltungen und Verhaltensmuster, die aus seinen theologischen Entwürfen folgten, enthüllt jedoch laut Meenken ein Ethos der Mäßigung und Versöhnlichkeit, das charakteristisch für eine demokratische Mentalität ist. Meenken untersucht die Freiräume, die in den Schriften Richard Hookers, William Chillingworths und Jeremy Taylors für den freien Gebrauch der individuellen Vernunft geschaffen wurden. Das Denken dieser Autoren wies auf die Begründung sittlichen Handelns in der Aufklärungsphilosophie, insbesondere deren Toleranz gegenüber anderen religiösen oder politischen Auffassungen, voraus. Nicht der Puritanismus, sondern gerade der Anglikanismus entwickelte somit laut Meenken die Werthaltungen, die als mentaler Hintergrund demokratischen Denkens wesentlich sind. Methodisch läßt sich gegen diese pointierte Gegenüberstellung vielleicht einwenden, daß Meenken im Fall des Puritanismus bestrebt ist, die demokratischen Elemente zu relativieren, während er sie im Anglikanismus herausarbeitet und betont. So wäre für den Anglikanismus insbesondere zu fragen, wie repräsentativ die behandelten Autoren für die Mehrzahl der Anglikaner waren. Doch gerade die Zuspitzung der These, die argumentativ klar und unter souveräner Beherrschung der theologisch und historisch komplexen Materie entwickelt wird, verleiht der Studie eine Geschlossenheit und Überzeugungskraft, die sie zur anregenden Lektüre werden läßt. Insgesamt entsteht ein differenziertes, von einem skeptischen Unterton durchzogenes Bild vom demokratischen Gehalt reformatorischer Theologie. Einzelelemente des Puritanismus und Anglikanismus wiesen in eine demokratische Richtung, doch Pauschalerklärungen, die den englischen Protestantismus als Ursprung moderner Demokratie- oder Menschenrechtsideale ansehen, erfahren eine klare Absage. Der Protestantismus brachte nicht die Grundkategorien der Demokratie hervor, sondern fungierte eher als Aufnahmefeld für säkulare politische Konzepte, die dann allerdings im religiösen Denken transportiert werden und nicht zuletzt darüber ihre zukünftige Wirkung entfalten konnten.

 

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