Zum Phänomen der politischen und sozialen Stabilität des viktorianischen Manchester

Besprechung zu:

Roger Scola: Feeding the Victorian City. The Food Supply of Manchester, 1770-1870, Manchester/New York (Manchester University Press) 1992. XX + 347 S., £29.95

Martin Hewitt: The Emergence of Stability in the Industrial City: Manchester, 1832-67, Aldershot/Brookfield (Scolar Press) 1996. XII + 335 S.

Autor der Besprechung: Detlev Mares

Erstveröffentlichung der Besprechung: Archiv für Sozialgeschichte 37, 1997, S. 707-710.

Prototypische, von der Baumwollverarbeitung abhängige Industriestadt mit krassem Antagonismus zwischen einer ständig reicher werdenden Schicht von Industriellen und einer verarmten, vielfach auf eine elende Existenz in Slums zurückgeworfenen Arbeiterschaft - dieses bereits von den Zeitgenossen geprägte Bild Manchesters als "Symbol eines neuen Zeitalters" (Asa Briggs) bestimmt bis zur Gegenwart die Vorstellung vom Leben in der nordenglischen Metropole im 19. Jahrhundert. Nur ungenügend läßt sich mit diesem Bild jedoch die auffallende politische und soziale Stabilität vereinbaren, die die Stadt trotz wiederkehrender Spannungen letztlich kennzeichnete. Die beiden vorliegenden Studien führen auf unterschiedlichen Wegen an die Wurzeln dieser Stabilität in Manchester und seiner Partnerstadt Salford heran. Beide heben an mit prägnanten Schilderungen der Gewerbe- und Berufsstruktur, die das Bild der von Antagonismen geplagten Baumwollstadt durch Verweis auf die fortbestehenden oder sogar neu aufblühenden Gewerbezweige sowie die vielfältigen Bruchlinien innerhalb der einzelnen Klassen relativieren. Klassengegensätze in der Stadt werden damit nicht heruntergespielt, erscheinen aber nicht als geradlinige Folge sozialer und ökonomischer Strukturen, sondern als vermittelt und geformt durch kulturelle und politische Konfrontation, aber auch Kooperation. Die sozialen Beziehungen in der Stadt werden jenseits aller Neuentwicklungen gerade erst aus deren Zusammenspiel mit traditionellen Strukturen verständlich.

Angesichts der Bedeutung von Hungerunruhen im 18. Jahrhundert ist die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln als Grundlage politischen und sozialen Ausgleichs kaum zu unterschätzen. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnten das heimische Lancashire und Cheshire trotz des intensivierten Anbaus einzelner Produkte (Kartoffeln) den Bedarf der rapide wachsenden Industriestadt in einigen Bereichen (Milch- und Gemüseproduktion) nicht mehr decken; die Erschließung zusätzlicher Nahrungsquellen wurde unabdingbar. Dies geschah vornehmlich durch stetigen Ausbau der zur Stadt führenden Transportwege, deren detaillierter Beschreibung Scola die erste Hälfte seiner Studie widmet, insbesondere im Hinblick auf die Bereitstellung von Fisch, Fleisch, Milchprodukten, Gemüse und Früchten. Die spezifischen Gegebenheiten im Umfeld Manchesters werden dabei sorgfältig herausgearbeitet. So breitete sich etwa der Gemüseanbau, stets vornehmlich auf Knollengewächse (Kartoffeln, aber auch Rüben und Möhren) konzentriert, entlang des Bridgewater Canal aus, gefördert durch den Verkehr eines eigens eingerichteten Marktbootes. Die letztlich erfolgreiche Überlagerung und Ablösung dieser etablierten Transportwege durch die Eisenbahn vollzog sich keineswegs abrupt. Nicht nur der Ausbau der Strecken, sondern auch die spezifischen Erfordernisse einzelner Güter führten vielmehr zu einem allmählichen Ablösungsprozeß. Eine zügige Durchsetzung der Eisenbahn findet sich im Fall von Schweinen, die beim Treiben über Land langsam waren und viel Gewicht einbüßten, während sich bei Rindern und Schafen die hergebrachten Treibrouten länger behaupten konnten. Mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes einhergehende geographische Verlagerungen des Lebensmittelhandels werden am relativen Niedergang Liverpools und der Bedeutungszunahme Newcastles als Umschlagplätze für aus Irland bzw. dem Norden Englands stammendes Fleisch deutlich.

Der zweite Teil der Studie über den hochgeradig spezialisierten Nahrungsmittelvertrieb in der Stadt bestätigt den Trend der neueren Forschung, die von einer frühzeitigen Etablierung fester Läden zur Versorgung der Bevölkerung ausgeht. Obwohl die Entstehung eines Großhandels sich nur sehr schleppend vollzog und in manchen Produktsparten noch bis nach 1870 auf sich warten ließ, waren Kleinläden in Manchester schon im frühen 19. Jahrhundert verbreitet. Dies bedeutet keineswegs, daß Märkte zur Bedeutungslosigkeit verkommen wären. Während vor allem Brot oder Käse früh durch Geschäfte vertrieben wurden, behaupteten Märkte im Verkauf von Fisch, Fleisch, Gemüse und Früchten bis in die siebziger Jahre hinein eine wichtige Position. Gerade die reine Versorgungsfunktion der großen Märkte wurde allerdings zunehmend um den Aspekt der Freizeitgestaltung erweitert - häufig überdacht und spektakulär beleuchtet, wurden Märkte feste Bestandteile der städtischen Topographie und ein beliebtes Ziel viktorianischer Familienausflüge.

Insgesamt vermochte die Quantität der verfügbaren Lebensmittel mit dem Bevölkerungswachstum Manchesters Schritt zu halten. Durch mangelhafte Konservierung der Lebensmittel, aber auch durch Betrügereien seitens der Verkäufer, blieb die Qualität der Ware allerdings häufig hinter den zur Aufrechterhaltung der Gesundheit erforderlichen Standards zurück. Kurzfristige Fluktuationen im Angebot konnten für die betroffenen Verbraucher einschneidende Versorgungsmängel in einzelnen Bereichen bedeuten. Im Zuge einer Gesamtbeurteilung der Lage, die insbesondere für die Armen und Arbeitslosen prekär sein konnte, ist zudem die Verschränkung der Nahrungsmittelversorgung mit anderen Faktoren, wie Wohnlage oder Einkommensschwankungen, zu berücksichtigen. Die Frage, was bei wem auf den Tisch kam, bleibt bei Scola jedoch ausdrücklich ausgeklammert. Die in England lange mit Akribie geführte Debatte über den Lebensstandard einzelner Klassen wird angesichts der lückenhaften, häufig eher anekdotischen Überlieferung für die Nachfrageseite durch eine Betrachtung des Nahrungsangebots ersetzt. In diesem Bereich hatte gerade die Vielzahl heterogener Quellen zur relativen Vernachlässigung durch die Forschung geführt. Scolas auf zwanzigjähriger Arbeit beruhende Studie, die wegen seines frühen Todes nun sein akademisches Lebenswerk bildet, bedeutet daher eine Pionierleistung in der Verbindung von Stadtgeschichte, Agrargeschichte, historischer Geographie und Transportgeschichte. Dabei ist es Scola gelungen, neben der Analyse ökonomischer Daten auch den Beitrag deutlich zu machen, der zur ausreichenden Versorgung der Bevölkerung Manchesters vom wandernden Händler, dem den Kaffee durch Chicorée streckenden Ladenbesitzer oder dem wegen der Eisenbahnen besorgten Kanalbetreiber geleistet wurde.

Bildete die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung einen wichtigen Hintergrund für den sozialen Frieden einer viktorianischen Industriestadt, widmet sich Martin Hewitts durchdachte und elegant formulierte Studie den vielfältigen politischen und kulturellen Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Klassen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich in Manchester eine middle class mit ausgeprägter kultureller und politischer Identität herausgebildet, die sich in Lesezirkeln, Konzerten, Bibliotheken und ähnlichen Institutionen äußerte und formte. Nicht zuletzt die Vorstellung, sich gegen eine aufrührerische, unmoralische und rohe Arbeiterschaft behaupten zu müssen, führte zur Konturierung dieses Mittelklassenbewußtseins. Politische und soziale Stabilität schien in erster Linie von einer erfolgreichen Moralisierung der unteren Bevölkerungsschichten abhängig zu sein, denen die Überlegenheit bürgerlicher Werte vermittelt werden müsse. Die zentralen Kapitel in Hewitts Studie bieten eine anregende Betrachtung dieses middle-class moral imperialism in den Bereichen religiöser Unterweisung, der Vermittlung "nützlichen Wissens" und der Moralisierung der Freizeitgestaltung der Arbeiter, insbesondere deren Rettung vor den Fährnissen der Kneipe. Detailliert werden die ambivalenten Folgen der Versuche geschildert, durch öffentliche Vorträge, belehrende Literatur, die Einrichtung von Mechanics' Institutes oder die Veranstaltung von Konzert- und Theateraufführungen auf die Lebenswelt der Arbeiterschaft Einfluß zu nehmen. In allen Fällen wird eine unverkennbare Resistenz der Arbeiter gegenüber bürgerlichen Beeinflussungsversuchen deutlich. Manchesters Arbeiterschaft akzeptierte die "Besserungs"- und Moralisierungsvorstöße aus der middle class letztlich nur, wenn diese ihren eigenen Anliegen entsprachen. Wo immer didaktische Absichten zu offenkundig wurden, waren die entsprechenden Institutionen zum Scheitern verurteilt. Aus der Erkenntnis, daß sich die Arbeiter ihrem Einfluß immer wieder entzogen, mußten die bürgerlichen Moralreformer letztlich ihre eigenen Unternehmungen den Wünschen der Arbeiter in einem Maß anpassen, das von den ursprünglichen Absichten letztlich nur Rudimente bestehen ließ. Das Scheitern der Versuche, die Arbeiter durch religiöse Unterweisung zu einem "moralischen" Lebenswandel anzuregen, führte schließlich zu einer völligen Kehrtwendung des bürgerlichen Reformierungsbestrebens: Ab den sechziger Jahren bemühte man sich zunehmend - wenn auch ebenfalls nicht mit bemerkenswertem Erfolg - um eine Rationalisierung der Freizeitgestaltung der Arbeiter, die die Aufnahmebereitschaft für moralische Ideen nun erst schaffen sollte.

In Kapiteln zum Klassenbewußtsein und zum politischen Handlungsspielraum der Arbeiter zeigt Hewitt überzeugend, daß die viktorianische Arbeiterschaft ein ausgeprägtes Wertesystem besaß, das auf egalitären Grundinstinkten und dem Anspruch auf eine gerechte Entlohnung der Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums basierte. Obwohl es nicht gelang, dieses Wertesystem, das sich von bürgerlichen Vorstellungen deutlich unterschied, in ein überzeugendes Alternativkonzept zur bestehenden ökonomischen Ordnung zu verdichten, beflügelte es die im Chartismus der dreißiger und vierziger Jahre kulminierenden politischen Aktivitäten der Arbeiter. Stets betont Hewitt aber auch die Möglichkeiten der Kooperation zwischen den Klassen, die selbst auf dem Höhepunkt der politischen Auseinandersetzungen bestehen blieben. Die Widersprüche und Begrenzungen der chartistischen Reformansätze im sozialen und ökonomischen Bereich verbieten es in Hewitts Einschätzung, den Chartismus als dezidierte Klassenbewegung darzustellen, die auf einen Umsturz der existierenden Ordnung abgezielt hätte. Vielmehr werden in Weiterführung und Präzisierung der Ansätze von Gareth Stedman Jones, Patrick Joyce und James Vernon die vielfältigen, oft widersprüchlichen Bedeutungsebenen herausgearbeitet, die in der betonten Klassenrhetorik der Chartisten aufschienen. Der die englische Arbeitergeschichtsforschung lange umtreibende Bruch vom angeblich "klassenbewußten" Chartismus zum working-class reformism der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts entpuppt sich damit als historiographische Chimäre. Nicht die politischen und sozialen Forderungen der Arbeiterbewegung veränderten sich, sondern lediglich in der strategischen Frage, wie diese am besten öffentlich vertreten werden könnten, vollzog sich ein tiefgreifender Wandel. Waren die Beschränkungen und Ambivalenzen der Reformziele, die von der bisherigen Forschung den fünfziger Jahren angelastet wurden, bereits im schillernden "Klassenbewußtsein" der Chartisten vorweggenommen und markieren somit keinen Bruch, zeugte das Ende öffentlicher Großkundgebungen nach 1850 von einem "new realism" (S. 249) in der politischen Strategie. Nicht die Befürworter einer Konfrontation mit den staatlichen und lokalen Autoritäten, sondern die Anhänger einer Politik allmählichen Wandels erhielten die Oberhand. Eine Aufgabe des eigenen Wertesystems ging damit nicht einher; ein Gefühl politischer Ohnmacht, das sich unter den Rahmenbedingungen lokaler Politik zunehmend ausbreitete, ließ aber die unverzichtbare Massenbasis radikaler Politik zerbröckeln.

In Hewitts Untersuchung behaupten sich "soziale Lage" und "Klassenidentitäten" als Kernkategorien für das Verständnis viktorianischer Politik, werden aber auf ihre Formung durch politische und kulturelle Konfrontationen rückbezogen. Damit bietet Hewitt einen souveränen Beitrag zur anhaltenden englischen Debatte über Kontinuitäten im Radicalism und zum Vorrang der sprachlich-kulturellen oder der sozialen Dimension in der Gestaltung demokratischer Politik. Er greift die Anregungen des sog. linguistic turn auf, verbindet dessen Anliegen aber mit einer beeindruckenden Rehabilitierung des Thompsonian culturalism als historischem Erklärungsansatz.

Aus der Lektüre beider Studien erscheint Stabilität als Ergebnis kultureller und politischer Unterhandlungen zwischen den Klassen auf der Grundlage einer relativen ökonomischen Existenzsicherung des Großteils der Bevölkerung Manchesters. Kulturelle Institutionen erweisen sich nicht als Instanzen bürgerlicher Hegemonie, sondern als "an arena of cultural contest and inter-class bargaining" (Hewitt, S. 123). Die Untersuchungen führen zu einer faszinierenden Neubetrachtung des viktorianischen Manchester, weisen aber insbesondere in ihren Fragestellungen und theoretischen Erwägungen weit über das lokale Beispiel hinaus.

 

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