Detlev Mares

Der Bruch zwischen Sartre und Camus.
Ein Beitrag zur politischen Kultur Frankreichs in der Zeit des Kalten Krieges

Erstveröffentlichung: Französisch heute 26, 1995, S. 38-51.
Die Anmerkungen und Literaturhinweise zu diesem Text finden sich in der Originalversion.

1.
Schon bald nach ihrem spektakulären Bruch im August 1952 wurde das politische Denken Jean-Paul Sartres und Albert Camus' den gegensätzlichen Lagern des Kalten Kriegs zugeordnet: der prokommunistische Stalin-Apologet Sartre auf der einen, der antitotalitäre Humanist Camus auf der anderen Seite. Im Zuge dieser Gegenüberstellung erscheint es nur folgerichtig, das Scheitern des Sozialismus in Osteuropa als geschichtliche Rechtfertigung für die Position Camus' zu interpretieren und demgegenüber Sartres Haltung als zeitgeschichtlich bedingten Irrweg bestenfalls dem Interesse des Ideengeschichtlers zu überlassen.
Doch trifft die krasse Dichotomisierung überhaupt die Problematik im politischen Denken der beiden französischen Schriftsteller und Philosophen? Standen sich beide nicht vielleicht näher, als sie dies selber wahrhaben wollten? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es erforderlich, das zum Bruch führende politische Denken Sartres und Camus' aus seinen Entstehungsbedingungen heraus darzustellen, entfaltete es sich doch nicht als von der Wirklichkeit abgehobene Theorie, sondern reflektierte und bewertete zeitgenössische Gegebenheiten sowie deren Widersprüche und Aporien.
Trotz aller Unterschiede ist Sartre und Camus von vornherein eine Grunderfahrung gemein: der Abscheu gegenüber dem faschistischen Ideenkreis. Die Wurzeln ihrer politischen Stellungnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg reichen damit bis in die dreißiger Jahre zurück. Durch die Abneigung gegen den Faschismus und die Kritik am Elend und der Unterdrückung eines Teils der Menschheit lag für Sartre und Camus gleichermaßen eine "philo-kommunistische" Weichenstellung nahe.
Sartre beschrieb seine prokommunistische Tendenz der Zwischenkriegszeit später selbstkritisch mit dem Hinweis, die "politischen Ereignisse" hätten dazu verführt, "das Klassenkampf-Schema wie ein Gitternetz zu verwenden, was mehr der Bequemlichkeit als der Wahrheit diente". Die Verurteilung des Nationalsozialismus führte zahlreiche französische Intellektuelle dazu, die Verbrechen Stalins bewußt zu ignorieren, um Hitler in keiner Weise zu legitimieren. Wie Raymond Aron in seinen Lebenserinnerungen feststellte: "Trotz Stalin - wegen Hitler - neigten wir dazu, den Kommunismus positiv zu sehen". Im Gegensatz zu Stalin erschien Hitler als "die unmittelbare und darum die Hauptgefahr".
Auch nach der Niederlage der faschistischen Staaten blieb die pro-kommunistische Grundeinstellung vieler französischer Intellektueller bestehen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es jedoch immer dringlicher, Position zum Stalinismus zu beziehen. Die Reaktionsmöglichkeiten reichten vom Rechtfertigen oder Ignorieren stalinistischer Herrschaftspraktiken bis zu deren entschiedener Verurteilung.

2.
Sartre hatte sich trotz seiner grundsätzlichen Sympathie für die Linke vor dem Krieg kaum um Politik gekümmert. Erst durch die Erfahrung des Zweiten Welktriegs sah er sich schließlich zu aktiver politischer Betätigung gedrängt. In der Untergrundarbeit gegen die deutsche Besatzung Frankreichs suchte Sartre ab 1941 mit Hilfe der Gruppe "Socialisme et Liberté" nach einem "dritten Weg" zwischen dem gaullistischen und dem kommunistischen Widerstand. Obwohl in seinen politischen Vorstellungen zunächst eher von Proudhon als von Marx geprägt, wandte sich Sartre bereits während des Krieges gegen Anti-Kommunismus und Anti-Marxismus.
In seiner ersten theoretischen Stellungnahme zum Marxismus, dem Aufsatz Materialismus und Revolution von 1946, wies Sartre die marxistische Dialektik als eine metaphysische Gedankenkonstruktion zurück. Die Dialektik verliere in ihrer von den Marxisten vorgenommenen Anwendung auf die materiell existierende Welt nicht ihren Charakter einer bloßen Forschungsmethode. Ihre angebliche Eigenschaft, nicht nur an die Materie herangetragene Forschungsmethode, sondern die "Struktur des Weltalls" zu sein, sei nur postuliert, aber auf keine Weise beweisbar.
Sartre kommt allerdings nicht umhin, das historische Faktum anzuerkennen, daß seit Epikur gerade der Materialismus oft das Freiheitsstreben der benachteiligten Menschen geleitet habe, daß also "zwischen der Lage einer unterdrückten Klasse und dem materialistischen Ausdruck dieser Lage eine tiefgreifende Beziehung" bestehe. Aufgabe des Philosophen sei es daher, die unzweifelhaft bestehenden Teilwahrheiten des Materialismus zu verwerten und zu einer eigenen, existentialistischen Anschauung der Revolution zu gelangen, die "Handeln und Wahrheit, Denken und Wirklichkeit" vereinige.
Sartre definiert revolutionäres Denken als "ein Denken in Situation; es ist das Denken der Unterdrückten, insofern sie sich gemeinsam gegen die Unterdrückung empören". Sartres Philosophie der Nachkriegszeit gründet in der Auffassung, daß jeder Mensch in die Welt "geworfen" sei, sein Leben aufgrund freier Entscheidungen konzipieren müsse und das Recht habe, eigene Entwürfe ohne Unterdrückung zu gestalten. Diese dem Menschen eigene Freiheit, vor dem Hintergrund der ihm bewußten Zufälligkeit seiner Existenz die Welt zu gestalten, nimmt auch der Revolutionär für sich in Anspruch. Sie steht im Widerspruch zum Materialismus der zeitgenössischen Marxisten, der alles Handeln als determiniertes Resultat materieller Verhältnisse interpretierte. Der Revolutionär ist sich nach Sartre bewußt, daß jede Welt- und Wertordnung, also auch die von ihm selbst erstrebte, nach ihrer Verwirklichung wieder transzendierbar ist und durch neue Verhältnisse abgelöst werden kann. Insofern sind weder ein determinierter Verlauf noch ein Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung möglich.
Obwohl Sartre den deterministischen Materialismus ablehnt, sieht er weiterhin im Sozialismus "das Mittel, das gestatten wird, die Herrschaft der Freiheit zu verwirklichen". Ebenso wie seine Materialismuskritik läßt sich ironischerweise auch dieser gedankliche Schritt aus Sartres Freiheitsphilosophie heraus erklären: Die Freiheit ist nur dann zu verwirklichen, wenn jedes Individuum bereit ist, auch die Freiheit des anderen anzuerkennen. Da diese wechselseitige Anerkennung jedoch in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht gegeben ist, muß sie durch einen revolutionären Prozeß errungen werden. Allerdings ist die Heraufkunft des Sozialismus nicht determiniert und der Erfolg nicht garantiert, sondern der Sozialismus ist vom Revolutionär "gemacht"; die "hemmnisreiche und langsame Eroberung des Sozialismus [ist] nichts anderes als die Bestätigung der menschlichen Freiheit in und durch die Geschichte". Der Revolutionär beansprucht laut Sartre, "dem Menschen die Möglichkeit zu geben, sein ihm eigenes Gesetz zu erfinden. Dies ist die Grundlage seines Humanismus und seines Sozialismus".
Insgesamt verdeutlicht Sartres Haltung von 1946 "die ganz spezielle Beziehung zwischen dem Sartreschen Denken und dem Marxismus, die ebenso von radikaler Fremdheit wie von Vertrautheit geprägt" (Cohen-Solal) war. Obwohl wegen seiner eigenständigen Revolutionsphilosophie heftigen Attacken seitens der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) ausgesetzt, akzeptierte Sartre die kommunistische Partei als "die einzige revolutionäre Partei", da sie als einzige politische Kraft auf die Veränderung der bestehenden Gesellschaft drängte.
Dennoch setzte Sartre auch nach dem Krieg seine Bemühungen um den "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus fort. Ab 1947 beteiligte er sich am "Rassemblement democratique revolutionnaire" (RDR), in dem sich Gewerkschaftler und linke Intellektuelle unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit zusammenschlossen, um zwischen USA und UdSSR einen eigenständigen Block, ein "sozialistisches Europa", zu etablieren. Sowohl kapitalistische Unterdrückung als auch die von Sartre abgelehnten stalinistischen Herrschaftsmethoden sollte es in dieser Vision von Europa, die von der KPF scharf angegriffen wurde, nicht geben. Als die Bewegung jedoch zusehends antikommunistische Züge annahm, verließ der auf Unabhängigkeit von den Blöcken bedachte Sartre im Oktober 1949 das RDR und zog sich von einer aktiven politischen Tätigkeit zurück.
Immer drängender stellte sich jedoch die Frage, welche Haltung Sartre gegenüber dem Stalinismus einnehmen sollte. Zu Beginn der fünfziger Jahre weigerte er sich, die Politik der UdSSR zu verdammen oder zu feiern, brachte jedoch dem System grundsätzliche Sympathie entgegen und warb um Verständnis: "Wenn wir ... einen Augenblick lang die paradoxe und neuartige These zu vertreten wagen, daß die sowjetischen Führer Menschen, Menschen in schwierigen, fast unhaltbaren Positionen sind, die zu verwirklichen versuchen, was ihnen richtig erscheint, die oft von den Ereignissen überrannt und manchmal weiter fortgerissen werden, als sie selbst es wollen ..., dann sieht auf einmal alles anders aus; und wir können uns vorstellen, daß ihnen durchaus nicht ganz wohl dabei ist, wenn sie plötzlich das Steuerruder herumreißen, so daß der ganze Apparat Gefahr läuft, zerstört zu werden". 1961 betonte Sartre, daß seine schwankende Haltung gegenüber der Sowjetunion um 1950 davon bestimmt gewesen sei, den Marxismus nicht durch die Verurteilung des Stalinismus zu diskreditieren: Er sei unsicher gewesen, ob "man das stalinistische Regime ablehnen konnte, ohne den Marxismus zu verdammen ... Und wie konnte man öffentlich die Sklaverei im Osten verdammen, ohne bei uns die Ausgebeuteten der Ausbeutung zu überlassen?" Diese Frage deutet die Grundproblematik an, die die Auseinandersetzung zwischen Sartre und Camus bestimmen sollte.
Politische Ereignisse des Jahres 1952 veranlaßten Sartre, seine zwar dem Kommunismus zuneigende, aber bisher eher vermittelnde Haltung aufzugeben und sich ausdrücklich zum Weggenossen der Kommunistischen Partei und der Politik der Sowjetunion zu erklären. Unter dem Eindruck der Verhaftung des Matrosen Henri Martin, der sich gegen den Indochina-Krieg ausgesprochen hatte, und zunehmender antikommunistischcr Tendenzen in Frankreich (Brieftaubenaffäre) veröffentlichte Sartre ab Juli 1952 eine Artikelserie unter dem Titel Die Kommunisten und der Frieden, in der er sich heftig und polemisch gegen Bourgeoisie und Antikommunismus, aber entschieden für die Kommunistische Partei aussprach. Sartre verkündete, ein Antikommunist sei "ein Hund, davon gehe ich nicht ab, davon werde ich nie mehr abgehen". Sartre behauptete später, "langsam angewachsener Ekel" habe in ihm einen "Abscheu . . . vor seiner eigenen Klasse gezeitigt. Im Namen der Prinzipien, die sie mir eingeimpft hatte, im Namen ihres Humanismus und ihrer 'Humaniora', im Namen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit schwor ich der Bourgeoisie einen Haß, der erst mit meinem Leben enden wird". Zwar zögerte Sartre in seinen haßerfüllten Polemiken hinsichtlich seiner Haltung zu den stalinistischen Arbeitslagern, doch wenn er sich "der KPF zu diesem Zeitpunkt trotz allem näherte, so vor allem deshalb, weil ihm die Absicht der Regierung, diese Partei zum Schweigen und ins Gefängnis zu bringen, unannehmbar erschien: ein absoluter Notfall". Zudem führte Sartre in späteren Jahren eine recht dezisionistisch anmutende außenpolitische Entscheidung als Grund für seine Annäherung an die Kommunisten an: "Angesichts der drohenen Kriegsgefahr, die in den Jahren 1950-1952 täglich zunahm, glaubte ich, es gebe nur eine Wahl: entweder USA oder UdSSR. Ich entschied mich für die UdSSR".
Außenpolitische Irritationen der folgenden Jahre umging Sartre mit der Schuldzuweisung an die USA. So schob er die Verantwortung für den Koreakrieg auf "die Militärs der Vereinigten Staaten, die mit den Feudalherren von Seoul verbündet waren", wodurch er den von ihm nie geleugneten Angriff Nordkoreas rechtfertigte. Da Sartre nach dem Scheitern des "dritten Wegs" im System der Sowjetunion zeitweilig die einzige Chance sah, den Sozialismus aufzubauen, relativierte er die Auswirkungen der stalinistischen Herrschaftspraxis, indem er auf die gleichzeitigen moralischen Versäumnisse der Westmächte verwies.
Genau in den Beginn dieser dezidiert pro-kommunistischen Phase Sartres fiel seine Auseinandersetzung mit Camus. Der erste Teil von Die Kommunisten und der Frieden erschien im Juli 1952 in Les Temps Modernes. Zwei Monate zuvor war die Kritik seines Mitarbeiters Francis Jeanson an Der Mensch in der Revolte erschienen; im August veröffentlichte Les Temps Modernes die Kontroverse zwischen Sartre und Camus.
Erst im November 1956 distanzierte sich Sartre unter dem Eindruck des Ungarnaufstands von der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion. Diese Entscheidung beendete jedoch weder seine grundsätzliche Sympathie noch seine philosophische Auseinandersetzung mit dem Marxismus. In den folgenden Jahren setzte er seine politischen Hoffnungen auf die kubanischen und jugoslawischen Experimente. Philosophisch akzeptierte er in seiner Kritik der dialektischen Vernunft (1960) weiterhin "den Marxismus als die unüberschreitbare Philosophie unserer Zeit", sobald er nur von seiner Erstarrung im Stalinismus befreit werde. Seinen Versuch, "eine strukturelle und historische Anthropologie zu konzipieren", verwirklichte er daher "innerhalb der marxistischen Philosophie". Auch wenn schon früh bezweifelt wurde, daß Sartres Freiheitsphilosophie sich tatsächlich mit dem Marxismus verbinden lasse, blieb der Existentialismus in Sartres Selbsteinschätzung fortan Bestandteil eines lebendigen Marxismus.

3.
Im Gegensatz zum wohlhabenden Bürgersohn Sartre war der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Algerienfranzose Camus schon vor dem Zweiten Weltkrieg politisch aktiv. Im Herbst 1935 trat er der Kommunistischen Partei bei. In einem Brief an seinen Lehrer Jean Grenier schilderte er im August 1935 seine Motive: "Mich erfüllt ein ausgeprägtes Verlangen, die Menge des Unglücks und der Bitterkeit, die die Menschheit vergiftet, verringert zu sehen". Camus sah seinen Eintritt in die Partei als ein moralisch begründetes "Experiment" an und beherzigte seinen Vorsatz, sich stets zu weigern, "einen Band des Kapitals zwischen das Leben und den Menschen treten zu lassen".
Somit weit davon entfernt, ein dogmatischer Kommunist zu sein, mußte Camus die Partei schon im November 1937 wieder verlassen: Er hatte sich für eine Zusammenarbeit mit den moslemischen Algeriern eingesetzt und wollte an dieser Politik festhalten, als die KPF nach der Zusammenarbeit Stalins mit der französischen Regierung ihre Kritik am "Kolonialismus" in Algerien einstellte.
In den folgenden Jahren betonte Camus als Journalist immer wieder die Rechte des Individuums und die Freiheit des Geistes, die er gegen jeglichen totalitären Anspruch in Schutz nahm. Dies schloß eine Übernahme sozialistischer Gedanken zwar nicht aus, doch Camus' Sozialismus gründete in einem unmittelbaren Solidaritätsgefühl mit unterdrückten Menschen, nicht in einer intellektuellen Inspiration durch die Gedanken Marx'. Während des Krieges sprach sich Camus als Mitarbeiter der Untergrundzeitschrift Combat für einen Sozialismus aus, der liberale Politik und Kollektivwirtschaft vereinigen sollte. Er wandte sich jedoch gegen eine Geschichtsphilosophie, die mit Absolutheitsanspruch behauptete, den Verlauf der Geschichte zu kennen, und sich das Recht anmaßte, das Leben der Menschen eschatologischen Heilserwartungen unterzuordnen. Demgegenüber betonte Camus stets ein maßvolles Vorgehen, das an der "condition humaine" orientiert sein sollte. Damit bezog er deutlich Distanz gegenüber der Kommunistischen Partei.
Camus lieferte seine zentrale Analyse marxistischen Gedankenguts 1951 in dem Essayband Der Mensch in der Revolte. Als Durcharbeitung von Gedanken, die sich über mehrere Jahre hinweg entwickelt hatten, stellen die politischen Aussagen aus Der Mensch in der Revolte nicht nur eine punktuelle Stellungnahme Camus' dar, sondern fassen wesentliche Konstanten seines Denkens zusammen, an denen er die jeweiligen tagespolitischen Ereignisse maß.
Ausgangspunkt des philosophischen Denkens Camus' ist das "Absurde", das Bewußtsein des Widerspruchs zwischen dem Streben des Menschen nach Sinn und der Erfahrung der Sinnlosigkeit der Welt. Das Fehlen der Wahrheiten über die Grundprobleme der existentiellen Situation des Menschen führt zur Verzweiflung als unentrinnbarer Grunderfahrung. Indem der Mensch sich aber für das Leben entscheidet, also nicht aus Verzweiflung Selbstmord begeht, sieht er dem Absurden ins Auge. In dieser Auflehnung gegen das Absurde revoltiert der Mensch gegen die Negativität des Daseins und verleiht dem Leben seine Größe und seinen Wert, denn in dieser Revolte "entdeckt man die metaphysische Forderung nach Einheit, die Unmöglichkeit, ihrer habhaft zu werden, und die Herstellung einer Ersatzwelt". In seiner Revolte bezeugt der Mensch "Tag für Tag seine einzige Wahrheit", indem er die Herausforderung des Lebens annimmt. Camus verbindet mit der Betonung dieser täglichen Herausforderung eine Absage an die Unterwerfung des einzelnen Menschen unter eine teleologisch gedachte Geschichte und somit "ein klares Nein zu allen Absolutsetzungen, die eine Unterwerfung verlangen oder gar das Opfer des Jetzigen um einer imaginären Zukunft willen, und damit ... das Ja zu einer Philosophie des Relativen, d.h. des Ausgleichs und des Maßes".
Das rechte Maß, das den Verführungen absoluter Weltanschauungen entgegentritt, sieht Camus im mittelmeerischen Denken manifestiert. Schon 1938 verwies er in "einer Zeit, da die Vorliebe für Doktrinäres uns der wirklichen Welt entfremden will", auf die "Verbundenheit mit den wenigen vergänglichen und wesentlichen Dingen ..., die unserem Leben einen Sinn geben: Meer, Sonne und Frauen im Licht". Eine Aussage von 1958 verdeutlicht Camus' Ablehnung einer Vergötzung der Geschichte trotz des Fehlens anderer absoluter Wahrheiten und der Grunderfahrung des Absurden: "Das Elend hinderte mich, zu glauben, daß alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, daß die Geschichte nicht alles ist. Das Leben ändern, ja, nicht aber die Welt". Indem Camus in Der Mensch in der Revolte unter Anwendung einer "Methode der kategorischen Radikalisierung" (Heinz Robert Schlette) Ideen wie die Forderungen nach Freiheit oder Gerechtigkeit bis in ihre letzten Konsequenzen zu Ende denkt, zeigt er, daß alle geschichtlichen Versuche, das Absolute zu verwirklichen, zum Scheitern verurteilt sind und untermauert somit seine Philosophie eines bewußten Maßhaltens und einer Liebe zur Welt. Diese Verbundenheit mit der Welt - von Camus immer wieder in poetischen Wendungen mit mythisch-philosophischer Sonnensymbolik beschworen und seiner Ansicht nach im "mittelmeerischen Denken" verkörpert - bildet den Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Marxismus, die einen breiten Raum unter den Essays in Der Mensch in der Revolte einnimmt.
Camus sieht im Denken Marx' die Vermischung einer wissenschaftlichen Methode zur Kritik des herrschenden Kapitalismus mit einem auf die Zukunft gerichteten "utopischen Messianismus". "Das Unglück ist, daß die kritische Methode, die ihrem Wesen nach der Realität angepaßt gewesen wäre, sich immer mehr von den Tatsachen entfernte, insofern als sie der Prophezeihung treu bleiben wollte".
Nachdem die revolutionäre Prophezeihung in den meisten Ländern gescheitert sei, bleibe einzig der Versuch der russischen Revolution bestehen, den Sozialismus zu verwirklichen. In Analogie zur Erstarrung des Christentums konstatiert Camus für die Zeit nach 1917 das Bestreben, den eschatologischen Anspruch trotz der Widerlegung vieler marxscher Prognosen aufrechtzuerhalten und über die Zeit zu retten. Camus analysiert vor allem, wie die wirtschaftlichen Grundlagen, die Marx am Kapitalismus kritisiert hatte (Arbeitsteilung, Akkumulation) auch nach der Revolution nicht abgeschafft, sondern ausgebaut würden, und er urteilt: "Die Idee einer Sendung des Proletariats konnte sich schließlich bis heute in der Geschichte nicht verkörpern. Das faßt den Mißerfolg der marxistischen Prophetie zusammen".
Von der Prophezeihung Marx' bleibe jedoch "die leidenschaftliche Ankündigung eines langfristigen Ereignisses übrig". Die Zuflucht der Marxisten bestehe nun in der Erwartung, "daß eines noch unsichtbaren Tages das Ende alles rechtfertige". Mit der Verheißung dieses Endziels legitimierten die Marx-Nachfolger den Terror des Staates. Dieses angebliche Endziel "ist jedoch die einzige Rechtfertigung der im Namen des Marxismus von der Menschheit geforderten Opfer. Aber es hat keine andere Vernunftgrundlage als eine Petitio principii, die in die Geschichte, ein Reich, das einzig und sich selbst genügend sein sollte, einen geschichtsfremden Wert einführt ... Das Ende der Geschichte ist kein Wert des Vorbilds und der Vervollkommnung. Es ist ein Prinzip der Willkür und des Terrors".
Mit der Stärkung der Staatsmacht sieht Camus das Regime Stalins in einen Widerspruch zu seiner offiziellen Philosophie geraten: "Entweder hat dieses Regime die klassenlose sozialistische Gesellschaft verwirklicht, dann rechtfertigt sich die Beibehaltung eines ungeheuren Unterdrückungsapparates nach marxistischen Begriffen nicht, oder es hat sie nicht verwirklicht, und dann ist der Beweis erbracht, daß die marxistische Doktrin irrig" ist. Um nicht zugeben zu müssen, daß die marxistische Lehre falsch sei, identifiziere sich die revolutionäre Prophetie mit einer Staatsdoktrin, die "zugunsten einer entfernten Gerechtigkeit ... die Ungerechtigkeit während der ganzen Zeit der Geschichte" legitimiere. Damit werde die Freiheit der gegenwärtig lebenden Menschen zugunsten einer unsicheren Verkündung zukünftiger Freiheit abgetötet. Camus lehnt dieses Denken entschieden ab und stellt ihm seine Auffassung mediterranen Maßes entgegen, das sowohl die Hoffnung auf eine jenseitige Zukunft als auch die Erwartung einer geschichtlichen Zukunft zugunsten gegenwärtigen Glücks zurückweist.
Camus sieht auch Marx in der Schuld für die Auswirkungen, die die prophetischen Elemente seines Denkens unter seinen Nachfolgern zeitigen sollten: Indem Marx nicht offenlegt, wie er sich die Heraufkunft des Sozialismus vorstellt, wird zwar einerseits ein gelassenes Abwarten im Vertrauen auf den determinierten Geschichtsablauf denkbar, andererseits aber werden Tendenzen angeregt, das bekannte Ziel der Geschichte aktiv herbeizuführen und im Verlauf dieses Prozesses das Leiden gegenwärtiger Menschen zu ignorieren oder zu rechtfertigen. Damit erweist sich Marx jenseits seines wissenschaftlichen Anspruchs als Utopist: "Die Utopie ersetzt Gott durch die Zukunft. Sie identifiziert die Zukunft mit der Moral; der einzige Wert ist der, der dieser Zukunft dient. Daher kommt es, daß sie fast immer zwangsausübend und autoritär war. Als Utopist unterscheidet sich Marx von seinen schrecklichen Vorgängern nicht, und ein Teil seiner Lehre rechtfertigt seine Nachfolger".

4.
Die Zurückweisung des Stalinismus durch Camus verschaffte dem Mensch in der Revolte eine warmherzige Aufnahme bei Konservativen und Antikommunisten. Dies stellte auch Francis Jeanson sarkastisch in seiner ausführlichen, von Sartre redigierten Rezension des Buches fest, die im Mai 1952 in Les Temps Modernes erschien. Jeanson bezeichnete Camus' Buch als eine "Pseudophilosophie einer Pseudogeschichte der 'Revolutionen'" und als "ein verfehltes großes Buch". Neben vielen bissigen Bemerkungen richtete sich Jeansons Haupteinwand gegen Camus' Sichtweise der Geschichte. Camus werfe den Stalinisten und Existentialisten vor, "totale Gefangene der Geschichte zu sein". Der Revolte Camus' gehe jedoch jede Wirksamkeit in der Geschichte ab, da sie wesentlich das Aufbegehren des Einzelnen gegen seine Lebensbedingungen bleibe. Demgegenüber müsse die Revolte, wolle sie den Lauf der Welt beeinflussen, "sich selbst in den historischen Kontext einfügen, dort ihre Angriffsziele bestimmen, dort ihre Gegner wählen".
Camus antwortete auf Jeansons Rezension mit einem Brief an den Herausgeber der Temps Modernes, Sartre. Dieser Brief, Sartres Antwort sowie eine weitere Stellungnahme Jeansons erschienen im August 1952 und markierten den Bruch zwischen Sartre und Camus.
Camus warf Sartre in einem recht persönlichen Ton vor, die Wahrheit nur im linken Lager finden zu wollen: "Wenn mir die Wahrheit tatsächlich rechts erschiene, wäre ich rechts". Den Artikel Jeansons betrachtet Camus als ein "Symptom" für die mangelnde Bereitschaft Sartres, andere als die marxistischen Traditionen der Revolte zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen werde alle differenzierte Kritik als "rechts" abgetan. Camus erklärt, von Jeanson bewußt mißinterpretiert zu werden und weist dessen Darstellung zurück, er stelle sich außerhalb des historischen Kontextes: "Der Mensch in der Revolte hat nämlich die Absicht zu zeigen ..., daß der reine Antihistorismus, zumindest in der heutigen Welt, ebenso unangebracht ist wie der reine Historismus". Camus stellt klar, "daß mein Buch die Geschichte nicht leugnet (eine sinnlose Negation), sondern nur die Haltung kritisiert, die aus der Geschichte ein Absolutes machen will". Camus stellt sich zwar teilweise gegen die Geschichte, aber nicht aus der Geschichte hinaus: "Diejenigen schließlich führen die Geschichte voran, die im gegebenen Moment sich auch gegen sie aufzulehnen wissen". Zudem weist Camus Jeansons Vorwurf, er bezeichne den Existentialismus und den Stalinismus als Gefangene der Geschichte, als eine Unterstellung zurück. Er habe lediglich behauptet, daß der Existentialismus "im Moment ebenfalls dem Historismus und seinen Widersprüchen unterworfen" sei.
Nach der Verteidigung seines Buches geht Camus zum Angriff auf Sartre über, indem er auf Widersprüche zwischen dem Marxismus und dem Existentialismus hinweist. Camus sieht in der Tatsache, daß Jeanson in seinem Artikel nicht auf die stalinistischen Konzentrationslager einging, ein Zeichen der "Verlegenheit", in der sich Sartre und seine Mitarbeiter wegen der Widersprüche zwischen ihrer Freiheitsphilosophie und dem Stalinismus befänden. Durch die Unfähigkeit, "zwischen der relativen Freiheit und der Notwendigkeit der Geschichte zu wählen", entstehe eine politische "Enthaltung", ja, eine "Art objektiver Komplizenschaft". Camus kommt zu dem Schluß, daß Sartre sich bemühe, "den Marxismus als implizite Lehre" zu verteidigen, jedoch die Politik, die sie nach sich ziehe, zu verschweigen. Er betont, er würde es "schließlich normal und fast mutig finden, wenn Sie das Problem offen behandelten und die Existenz dieser Lager rechtfertigten".
Sartre antwortete ebenfalls in einem verletzenden persönlichen Ton und suggerierte, Camus habe sein Wissen über Hegel und Marx nur aus zweiter Hand angelesen. Auf die Aufforderung, zu den stalinistischen Lagern Stellung zu nehmen, erklärt Sartre zwar, auch er halte die KZs für "untragbar"; er betont jedoch, daß er "die Art, wie die 'sogenannte bürgerliche Presse' sie jeden Tag ausschlachtet", ebenso untragbar finde. Eine öffentliche Verurteilung der Lager bedeute, all den Antikommunisten Vorschub zu leisten, die sich "hämisch über diese Strafkolonien freuten", um mit deren Hilfe ihr Gewissen reinzuwaschen und gegen die Linke vorzugehen.
Hatte Camus gefordert, Unterdrückung im Osten genauso anzuprangern wie im Westen, verlangte Sartre, "einen Unterschied zwischen den Herren zu machen": Da Sartre seine Hoffnung, die Unterdrückung auf der ganzen Welt zu beheben, auf den Sozialismus setzt, durfte dieses Instrument nicht durch eine Kritik an der Sowjetunion, so berechtigt sie auch sein mochte, diskreditiert werden. Durch die Solidarität mit den unterdrückten Menschen im Westen (z.B. den Kolonialvölkern) und den Angriff auf die westlichen Unterdrücker werde letztlich auch den Unterdrückten im Osten geholfen, denn beide Hälften der Welt seien eng miteinander verklammert; "der Eiserne Vorhang ist nur ein Spiegel, und jede Welthälfte spiegelt die andere wider. Jeder Schraubenumdrehung hier entspricht eine Schraubenbewegung dort, und schließlich sind wir hier wie dort die Schraubenden und die Geschraubten". Sartre rechtfertigt die stalinistischen Lager also nicht, relativiert sie aber im Vergleich mit westlicher Unterdrückung und betont, daß sich aufgrund der engen Verklammerung der beiden Welthälften niemand im Westen der Verantwortung für die Unterdrückung im Osten entziehen könne: "Denn meiner Ansicht nach sind wir alle in den Skandal der Konzentrationslager verwickelt. Sie genauso wie ich". Dieser Verantwortung könne man nicht künstlich durch die billige Verurteilung der stalinistischen Lager entgehen, da eine solche Entscheidung letztlich nur die Antikommunisten und Unterdrücker im Westen stütze und dadurch dem Sozialismus schade, der allein in der gegenwärtigen Situation die Unterdrückten befreien könne.
Jenseits dieser eher politisch-strategischen Bemerkungen geht Sartre zudem auf Camus' grundsätzliche Sicht der Geschichte ein. Camus hatte in seinem Artikel gefragt, wie "die Geschichte einen schon jetzt wahrnehmbaren Sinn" haben könne, wenn - wie im Existentialismus - angenommen werde, daß der Mensch keinen Endzweck habe, sondern sich selber schaffe. Sartre behauptet in seiner Antwort (ähnlich wie schon Jeanson in seiner Rezension), Camus stilisiere sich gegenüber der Geschichte zum Außenstehenden, der sich nicht an ihr beteiligen wolle, und sehe "nur noch das Absurde des menschlichen Tuns". "Hat die Geschichte einen Sinn, fragen Sie, hat sie einen Zweck? Für mich ist es eben diese Frage, die keinen Sinn hat: denn die Geschichte ist, losgelöst vom Menschen, der sie macht, nur ein abstrakter, lebloser Begriff . . . Und das Problem heißt nicht, ihren Zweck zu erkennen, sondern ihr einen zu geben."
Diese Ansicht widerspricht derjenigen Camus' jedoch nicht notwendigerweise, unterstellt diesem vielmehr eine Frage ("Hat die Geschichte einen Sinn?"), die er so nie formuliert hat; Camus hatte demgegenüber die berechtigte Frage an Sartre gerichtet, wie sich die Freiheitsphilosophie des Existentialisten mit dem Geschichtsdeterminismus des Marxismus vereinbaren lasse. Sartre selber hatte schon 1946 in seinem Aufsatz Materialismus und Revolution bestritten, daß es ein Ziel der Geschichte geben könne, und indem er diese Auffassung 1952 in der Auseinandersetzung mit Camus bekräftigte, behielt dessen Frage nach der Vereinbarkeit von Existentialismus und Marxismus ihre Berechtigung. Statt auf diese - sicherlich auch etwas süffisante - Frage einzugehen, versucht Sartre, der sich zu diesem Zeitpunkt für eine Verteidigung des Marxismus entschieden hat, lediglich, die potentiellen Widersprüche zwischen Existentialismus und Marxismus zu verschleiern und die an sich berechtigte Frage Camus' raffiniert gegen diesen zu wenden.
Während Camus in erster Linie menschenverachtende eschatologische Heilslehren zugunsten des Lebens der gegenwärtigen Generation widerlegen will, konstruiert Sartre einen scharfen Gegensatz zwischen Camus und seiner eigenen Auffassung und akzeptiert Camus' Revolte, die doch gerade zur Sinngebung in der Welt verhelfen soll, nicht als eine geschichtlich verantwortungsbewußte Reaktion auf die Erfahrung des Absurden. Zwar richtet Camus in der Tat seine eigentliche Hoffnung "auf einen geschichtslosen politikfreien Raum der 'amour'", doch er stellt sich der Herausforderung durch die politische Wirklichkeit und versucht, ihr verantwortungsbewußt zu begegnen. Auch wenn der Sinn der Revolte schon "unabhängig von allem Erfolg in der Tatsache der Erhebung selber" liegen mag, so beanspruchte Camus für sie doch auch und gerade politische Wirksamkeit. Kennzeichen der Revolte ist lediglich, daß sie - will sie ihren Ursprung der brüderlichen Solidarität mit den Menschen nicht verraten - eine Grenze anerkennt, indem sie den Revoltierenden davon abhält, das Leben anderer Menschen zu vernichten.
Sartre bemühte sich zwar 1960 in der Kritik der dialektischen Vernunft um die Synthese von Marxismus und Existentialismus, doch abgesehen davon, ob man ihm ein Gelingen dieser Aufgabe bescheinigen will, konnte er diesen Versuch letztlich erst unternehmen, nachdem er sich vom Stalinismus abgewandt hatte, sich also nicht mehr (wie 1952) gezwungen sah, den Marxismus in dieser erstarrten Form zu verteidigen. Indem Sartre 1960 den Stalinismus als erstarrte Form des Marxismus kritisierte, traf er sich auf jeden Fall in einem wichtigen Punkt mit der von Camus schon 1951 formulierten Verurteilung.

5.
Die Skizze des politischen Denkens bei Sartre und Camus hat weitreichende Gemeinsamkeiten deutlich werden lassen, die gegen eine krasse Gegenüberstellung beider Autoren sprechen: Ausgehend von der Grunderfahrung des Verlustes absoluter bindender Werte und des Absurden versuchten sie, den Nihilismus zu überwinden und menschengerechte, lebensbejahende Philosophien zu begründen. Beide lehnten den geschichtlichen Determinismus und den Glauben an ein Ziel der Geschichte ab. Von persönlichen Motiven abgesehen, die für den Bruch zwischen Sartre und Camus eine Rolle gespielt haben dürften - auseinanderdriftende Herkunftsmilieus, unterschiedliche Bildungswege, verletzte Eitelkeiten und die Rivalität zweier Schriftsteller mit demselben Zielpublikum -, reduzieren sich die Differenzen zwischen beiden Denkern im Kern auf Fragen der politischen Taktik und Moral.
Camus, der stets die Würde des gegenwärtig lebenden Menschen gegenüber absoluten Denksystemen verteidigte, lehnte jede Philosophie ab, die im Hinblick auf eine angebliche Heilserwartung in der Zukunft das Leiden von Menschen in Kauf nahm. Den Marxismus beurteilte Camus letztlich als eine Utopie, deren eschatologische Komponenten -ähnlich wie der Faschismus - in einen staatlichen Terror mündeten, der angesichts der Würde des Menschen in keiner Weise legitimiert werden könne.
Sartre sah trotz seiner philosophischen Kritik den Marxismus stets als legitime Philosophie der Revolution an, die als Sprachrohr der Unterdrückten fungierte. Der Marxismus bildete für ihn das Fundament, von dem aus Unterdrückung in der gegenwärtigen Situation aufgehoben werden sollte. Für einige Jahre (1952-1956) glaubte Sartre, nur ein entschiedenes Bekenntnis zum Stalinismus könne eine Diskreditierung des gesamten Marxismus durch die westliche Stalinismus-Kritik verhindern, die in der antikommunistischen Atmosphäre der fünfziger Jahre verbreitet war. Somit resultierte Sartres Eintreten für den Stalinismus aus seinem stetigen Kampf gegen den Antikommunismus; Sartre war kein orthodoxer Marxist, sondern in erster Linie Anti-Antikommunist. Seine Unterstützung für Stalin stellte eine taktische Entscheidung dar, mit der er in einer Phase erhöhten Antikommunismus den Marxismus bewahren wollte. Damit folgte er einer "Logik der Relativität von Dringlichkeiten" (Cohen-Solal), die es ihm andererseits 1956 ermöglichte, sich mit vollem Einsatz in die antistalinistische Front einzureihen, als die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands die Erstarrung des Marxismus im Stalinismus augenfällig machte. In der Zwischenzeit hatte sich Sartre jedoch nicht gescheut, in politischen Kommentaren zugunsten der Sowjetunion Stellung zu nehmen und allen Vorwürfen, die gegen die Politik der UdSSR erhoben wurden, Attacken auf das Versagen westlicher Politik entgegenzustellen. Dabei ist es schwer, im Einzelfall zu unterscheiden, wann Sartre tatsächlich von seinen Aussagen überzeugt war, und wann er sie aus strategischen Gründen zur Unterstützung des Marxismus für notwendig hielt.
Suchte Sartre nach einer "moralischen Dimension von Politik, allerdings unter Einbeziehung der strategischen Wahl" (Cohen-Solal), so beharrte Camus gegenüber dieser "verité tactique" (Rupert Neudeck) stets auf überzeitlichen moralischen Prinzipien. Beide Positionen trafen gerade zu einem Zeitpunkt aufeinander, als sich durch Sartres Entscheidung für den Stalinismus die beiden Extreme besonders pointiert gegenüberstanden.
Hat Camus gegenüber Sartre "recht behalten"? Beim Versuch einer Antwort auf diese Frage sollte stets berücksichtigt werden, daß Camus zwar den Stalinismus 1952 im Gegensatz zu Sartre verurteilte, daß aber seine Kritik am Marxismus durchaus als eine Kritik von "links" zu verstehen war. Er kritisierte Marx für dessen Prophetie, die zur Vergötzung der Geschichte und zum staatlichen Terror führen konnte. Insofern Marx jedoch die Erniedrigung des Menschen durch den Kapitalismus anprangerte, stimmte Camus ihm zu.
Francois Bondy stellte 1953 fest, daß Camus' Denken der Revolte "die konservativen Werte in einer Sprache erfaßt, die der linksgerichteten Intelligenz annehmbar ist". Aus vierzigjähriger Distanz betrachtet scheint die Aktualität des Denkens von Camus jedoch im Gegenteil darin zu liegen, daß es linke Gesellschaftskritik in einer Weise bewahrt, die sie auch Konservativen annehmbar werden läßt. Die Einschätzung, Camus habe einen späten "Sieg" über Sartre errungen, vernachlässigt nicht nur die Marxismuskritik Sartres, sondern sie neigt auch dazu, die Komponenten aus dem Denken Marx' zu ignorieren, die bei Camus bewahrt bleiben. Seine politischen Sympathien galten allerdings nie dem parteigebundenen Marxismus, sondern den antistalinistischen, anarchosyndikalistischen Bestrebungen in Spanien und Frankreich, die ihrerseits dem Mensch in der Revolte Anerkennung zuteil werden ließen.
Sowohl Sartre als auch Camus versuchten, mit ihrem politischen Denken zum Verständnis ihrer Zeit beizutragen und verantwortungsvolles Handeln zu begründen. Camus plädiert mit der "Revolte" für ein zeitloses Maßhalten, das stets das Wohl der Menschen im Auge hat und dieses nicht zugunsten utopischer Ziele opfert; Sartre dagegen geht immer bewußt von der jeweils konkreten Situation aus, indem er das Ziel der Befreiung und Aufhebung von Unterdrückung durch die bewußte Entscheidung für eine Seite zu erreichen sucht. Sagt Camus, er wolle weder zu den Opfern noch den Henkern zählen ("ni victimes ni bourreaux"), so wird Sartre im Namen der Opfer zum Henker der (seiner Auffassung nach) bisherigen Henker.
Der Algerienkrieg zeigte jedoch, daß sich beide Denker in der politischen Praxis in fast schon tragisch anmutende Aporien verstrickten. Sowohl Camus' Versuche, einen "Burgfrieden" zu vermitteln, als auch Sartres unbedingtes Eintreten für die algerische Befreiungsbewegung hinterlassen einen schalen Nachgeschmack - Camus blieb erfolglos, Sartre sah sich gezwungen, die Gewaltaktionen der FLN zu verschweigen, während er nur den Terror der OAS verurteilte. Eindrucksvoll zeigt sich an diesem Beispiel immerhin der Unterschied im politischen Denken bei Sartre und Camus: Camus war in erster Linie Moralist, Sartre Taktiker. Doch auch wenn der Moralist wenig taktisch handelte, so handelte der Taktiker nicht notwendigerweise unmoralisch.