Besprechung zu:

Hahn, Hans-Werner (Hg.), Johann Philipp Becker. Radikaldemokrat - Revolutionsgeneral - Pionier der Arbeiterbewegung (Stuttgart: Thorbecke, 1999) (= Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung 5). 192 S. + 10 Abb. ISBN: 3-7995-4905-6

Autor der Besprechung: Detlev Mares

Erstveröffentlichung: MEGA-Studien 2000/1, S. 143-145.

Mit Johann Philipp Becker (1809-1886) ist dieser aus einer Tagung der Siebenpfeiffer-Stiftung hervorgegangene Band einer Persönlichkeit gewidmet, die wesentlichen Anteil an den demokratischen und sozialistischen Bestrebungen in Deutschland vom Vormärz bis ins Kaiserreich hinein hatte, die aber zugleich in der Geschichtsforschung eine sehr unterschiedliche Resonanz gefunden hat. Während Becker in der DDR-Geschichtsschreibung zur Schaffung einer demokratisch-sozialistischen Traditionslinie instrumentalisiert wurde, blieb er in der strukturgeschichtlich (und damit anti-biographisch) ausgerichteten westdeutschen Sozial- und Arbeitergeschichte weitgehend unbeachtet. Ein nicht geringes Verdienst des vorliegenden Bandes liegt darin, gerade diese unterschiedlichen Zugänge zur Person Beckers in eigenen Aufsätzen zu thematisieren (Beiträge von Walter Schmidt und Erich Schunk, zudem die Einleitung des Herausgebers). Dies ist um so wichtiger, als die übrigen Beiträge keine geschlossene Interpretation der politischen Karriere Beckers liefern, sondern noch ganz gekennzeichnet sind von der Überwindung der unterschiedlichen historiographischen Traditionen, aus denen heraus Beckers Wirken betrachtet wurde. Wenig Probleme bereiten Beckers radikaldemokratische Anfänge, die in Beiträgen über seine frühen Aktivitäten im heimischen Frankenthal (Gerhard Nestler) und über seine Rolle während des Hambacher Festes (Joachim Kermann) erörtert werden. An den Kern des Becker-Problems führen jedoch die Beiträge heran, die sich mit den Wandlungen seines politischen Weltbildes befassen. Rolf Dlubek schildert die ersten sozialistischen Einflüsse, denen Becker bereits im vormärzlichen Schweizer Exil ausgesetzt war und die zusammen mit seinen "Revolutionserfahrungen" die Entwicklung zum Sozialisten herbeiführten. Dabei grenzt sich der Verfasser von der "Marx-Fixiertheit" (S. 108, Anm. 94) der von ihm selbst mitgeprägten DDR-Forschung ab, die Beckers Übernahme sozialistischer Positionen mit seinem Anschluß an Marx (1860) erklärte. Plausibel argumentiert der Autor stattdessen, daß Becker bereits aufgrund der gescheiterten Revolution von 1848 eine Wendung zur Arbeiterschaft vollzog: Nur diese schien ihm eine Erreichung der revolutionären Ziele zu versprechen, während die bürgerlichen Revolutionäre durch ihre Kompromisse mit den Regierungen ihren Kredit bei Becker rasch verspielt hatten. Was aber bedeutet es, von einem Sozialismus Beckers zu sprechen? Stand im Zentrum seines Wirkens nun der "Kampf um die Emanzipation der Arbeiter", wie es Daisy Devreese (S. 118) formuliert? Oder brachte die Hinwendung zur Arbeiterschaft lediglich eine soziale Erweiterung von Beckers Republikanismus, der aber weiterhin das Hauptmotiv seines politischen Handelns bildete? Die zweite Variante erscheint wahrscheinlicher, bedenkt man den für Becker stets charakteristischen Primat der politischen Praxis vor der politischen Theorie.

Um das Verhältnis von Theorie und Praxis in Beckers Handeln besser beurteilen zu können, wäre es allerdings erforderlich, zentrale Kategorien in Beckers politischem Vokabular, so "Republik" oder "Sozialismus", eingehender zu untersuchen. Einem solchen Unterfangen scheint aber immer noch Karl Griewanks Einschätzung im Wege zu stehen, Becker sei organisatorisch und literarisch gewandt, "freilich gedanklich flach vulgär-aufklärerisch" gewesen (NDB 1, S. 717). Bedauerlicherweise wird diese Wertung auch von Autoren des vorliegenden Bandes übernommen (S. 10 u. 92), obwohl sie in ihren eigenen Beiträgen ein anderes Vorgehen nahelegen. Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, Becker an einem Denker wie Marx zu messen; doch inzwischen hat sich die Geschichtsforschung eigentlich weit genug von den ideengeschichtlichen Gipfelzügen entfernt, um nicht nur originelle Beiträge zur politischen Theorie schätzen zu können. Gerade eine Person wie Becker eröffnet die Möglichkeit, die Relevanz politischer Theorien für das Handeln von Volksbewegungen untersuchen zu können - systematisch wird dieser Weg im vorliegenden Band aber bedauerlicherweise nicht beschritten. Folglich werden auch die Facetten des Beckerschen Internationalismus im Beitrag zu seinem Wirken in der Internationalen Arbeiter-Assoziation nicht eingehend erkundet. Schon die Beschreibung der "klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft" als Zielvorstellung der IAA (S. 115) stützt sich in erster Linie auf die von Marx verfaßten Gründungsdokumente der Vereinigung, läßt aber von dieser offiziellen Linie abweichende Konzeptionen außen vor. Für Beckers Internationalismus selbst läßt sich fragen, inwiefern er tatsächlich mit sozialistischen Vorstellungen gleichgesetzt werden kann oder ob nicht das Erbe des frühradikalen Völkerverbrüderungsgedankens weiterhin eine wichtige Rolle spielte (Marco Paolino zur italienischen Einigungsbewegung). Auch in diese Richtung bietet der Band interessante Ansätze: So rückt der Aufsatz zu den politischen Anfängen Beckers in Frankenthal das Engagement des jungen Radikalen in der Polenagitation von 1830 in den Blick. Das regionalgeschichtliche Interesse, das einen Hintergrund der Siebenpfeiffer-Stiftung bildet, verbindet sich an dieser Stelle mit dem biographischen Ansatz zu einer faszinierenden Perspektive für die Becker-Forschung.

Insgesamt liegt der Wert dieses Bandes nicht darin, die überfällige Becker-Biographie zu ersetzen. Allerdings bietet er auch wesentlich mehr als eine bloße Bestandsaufnahme der bisherigen Becker-Forschung. Vielmehr wirft er vor dem Hintergrund zum Teil heftig divergierender Forschungstraditionen überhaupt erst eine Reihe von Kernfragen auf, die zur weiteren Beschäftigung mit einer zwar bekannten, aber dennoch zu wenig erforschten Persönlichkeit ermuntern. Daß diese Fragen noch nicht alle beantwortet werden können, ist in diesem Fall kein Mangel, sondern Anzeichen der Interpretationsprobleme, die die Person Beckers immer noch herausfordert.

 

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